In Frankfurt dürften sich an diesem Dienstag viele über diese Nachricht schwer ärgern: Der Industriegasekonzern Linde will sich von der Frankfurter Börse verabschieden, und damit auch aus dem Deutschen Aktienindex (Dax). Der Verwaltungsrat habe entschieden, den Aktionären den Rückzug von der Frankfurter Börse vorzuschlagen, teilte der Noch-Dax-Konzern am späten Montagabend mit. Wenn mehr als 75 Prozent der Linde-Aktionäre für den Rückzug aus Frankfurt stimmen, könne er im März 2023 vollzogen werden.
Linde ist nicht nur seit der Gründung des Dax im Jahr 1988 ununterbrochen Mitglied. Das Unternehmen ist mit einer Bewertung von mehr als 140 Milliarden Euro auch die wertvollste Börsenfirma hierzulande. Ein Verlust von Linde würde den Dax und damit die Deutsche Börse also hart treffen. Künftig soll die Linde-Aktie nur noch an der Börse in New York gehandelt werden.
Im Klartext: Die Präsenz am Main lohnt sich einfach nicht
Besonders schmerzhaft für die Deutsche Börse ist die Erklärung für die Entscheidung: Die doppelte Börsennotierung in New York und Frankfurt habe einen negativen Einfluss auf die Bewertung des Unternehmens, sagte Vorstandschef Sanjiv Lamba. Im Klartext: Die Präsenz in Frankfurt lohnt sich einfach nicht. Die Linde-Aktie wird bisher an beiden Börsen gehandelt, der größere Anteil des Börsenhandels findet aber schon jetzt in New York statt. Trotzdem war die Anwesenheit in Frankfurt auch ein wichtiges Symbol, Linde dürfte noch eine größere Zahl von deutschen Kleinaktionären haben.
Das Problem ist eine spezielle Regelung im Dax. Linde überschreitet als wertvollster Dax-Wert regelmäßig die sogenannte Kappungsgrenze von zehn Prozent. Damit soll das Gewicht der besonders wertvollen Aktien im Dax begrenzt werden. So lange sich die Aktie besser entwickelt als der Dax, müssen Indexfonds, die den deutschen Leitindex abbilden, deshalb immer wieder Linde-Aktien verkaufen, damit der Anteil der Linde-Aktien nicht über zehn Prozent steigt. Es gebe eine Korrelation, so Linde, die Regelung würde die Linde-Wertentwicklung "negativ beeinflussen". Die Aktie ging regelmäßig wegen der "erzwungenen" Verkäufe nach unten.
Die Deutsche Börse wollte die Regelung aufweichen, doch Investoren hatten eine Erhöhung der Kappungsgrenze im Juni abgelehnt. Solche Maximalwerte sind nur bei einigen europäischen Indizes üblich, im S&P-500-Index mit seinen 500 Werten oder auch beim FTSE-100 in London spielen sie keine Rolle. In der Schweiz etwa liegt die Kappungsgrenze erst bei 20 Prozent, in Frankreich bei 15 Prozent. Dort sind die Schwergewichte Nestle (Lebensmittel) und LVMH (Luxusgüter) betroffen, weil sie teilweise ein noch größeres Gewicht haben.
Das Doppel-Listing habe gute Dienste geleistet, es habe aber aufgrund der Beschränkungen in Europa die Kursentwicklung gebremst, sagte Lamba, der Linde seit gut einem halben Jahr führt: "Wir sind sehr stolz auf unsere reiche Geschichte und starke Präsenz rund um die Welt, einschließlich unserer Herkunft aus Deutschland."
Das Münchner Traditionsunternehmen Linde, von Carl von Linde 1879 gegründet, fusionierte 2018 mit dem US-Konkurrenten Praxair. Der Zusammenschluss war damals umstritten, eine der treibenden Kräfte war der damalige Linde-Aufsichtsratsvorsitzende Wolfgang Reitzle. Ein deutsches Unternehmen ist der Konzern - abgesehen vom Namen - seitdem schon lange nicht mehr. Das Geschäft ist ohnehin weltweit, ein Großteil der Managementfunktionen ist seit der Fusion in die USA abgewandert. Die Unternehmenszentrale ist offiziell in Woking in Großbritannien angesiedelt, rechtlicher und steuerlicher Sitz ist die irische Hauptstadt Dublin - die Unternehmensleitung aber sitzt faktisch in den USA.
Sollten die Börsen-Rückzugspläne umgesetzt werden, würde eine neue Holdinggesellschaft gegründet, teilte Linde mit. Die Aktionäre würden für jede Aktie von der bisherigen Linde plc eine Aktie der neuen Holdinggesellschaft erhalten, die an der New Yorker Börse notiert werden solle, hieß es weiter. Immerhin: Die neue Holdinggesellschaft werde weiterhin den Namen Linde tragen. Auf die Organisationsstruktur, die Mitarbeiter, Kunden oder die Präsenz von Linde habe der Vorschlag keine Auswirkungen, sagte Lamba. Deutschland werde ein wichtiger Markt bleiben. Lindes Hauptverwaltung war früher in München, in Höllriegelskreuth bei Pullach südlich der Stadt hat der Konzern einen großen Standort.