Lesegewohnheiten:Text auf Speed

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Spritz ist gedacht für Schnelleser. (Foto: Screenshot)

Menschen lesen im Zeitalter von Smartphones noch immer so, wie sie Steintafeln und Hieroglyphen entziffert haben. Das Start-up Spritz will das ändern. Über die ungeahnten Möglichkeiten des digitalen Lesens.

Von Dirk von Gehlen

Die digitale Revolution ist bisher eine Revolution des Publizierens: "Veröffentlichen", schreibt der Internet-Theoretiker Clay Shirky, "ist kein Beruf mehr. Veröffentlichen ist ein Knopf." In dem Chaos, das aus dieser Demokratisierung der Publikationsmittel für ganze Branchen entstanden ist, ging bisher unter, dass die Digitalisierung auch die Art verändern wird, wie Menschen Informationen aufnehmen. Warum lesen Menschen auch in digitalen Räumen noch genau so, wie sie Steintafeln oder Hieroglyphen entzifferten: indem sie die Augen - je nach Kulturkreis - von links nach rechts, rechts nach links oder oben nach unten bewegen?

Maik Maurer hat sich diese Frage gestellt. Der 38-jährige Maschinenbauer aus München ist einer der Gründer des amerikanischen Start-up Spritz mit Sitz in Boston, das eine Art digitale Revolution des Lesens verspricht. Im Rahmen des Mobile World Congress in Barcelona präsentierte er soeben seine Antwort: Menschen lesen auf diese analoge Art, weil sie die digitalen Möglichkeiten nicht kennen.

Denn anders als statische Darstellungsformen wie Papier bieten digitale Displays die Möglichkeit, Text dynamisch anzuzeigen. Sätze können in ihre Bestandteile zerlegt und Wort für Wort präsentiert werden - und zwar in dem Tempo, das der Lesende bestimmt. Das Auge muss sich so nicht mehr von zum Beispiel links nach rechts bewegen um Worte aufzunehmen, sondern bleibt auf einem Punkt und lässt die Worte auf sich zufliegen - spritzen.

Der Punkt, auf dem das Auge ruht, ist der Optimal Recognition Point (ORP). Der ORP ist der zentrale Aspekt an dem Patent, das Maurer mit seinen Kollegen für diese neue Lesetechnik angemeldet hat. Der ORP ist auch der große Unterschied zu schon bekannten RSVP-Techniken (Rapid Serial Visual Presentation), die zum sogenannten Speedreading eingesetzt werden und die Worte meist linksbündig oder mittig anzeigen. Maurer hat nun herausgefunden, dass der optimale Lesepunkt je nach Wortlänge an unterschiedlichen Stellen liegt.

Bei Spritz wird der jeweilige Buchstabe rot markiert, als Einladung an das Auge, dort zu verharren und den nächsten Begriff aufzunehmen. Spritzen lernt man, in dem man sich Texte digital in dem kleinen Feld anzeigen lässt, das die Firma redicle nennt. Auf der Webseite der Firma kann man das testen. Man braucht ein paar Minuten, um sich an den Wortfluss zu gewöhnen, der in dem kleinen Sichtfeld angezeigt wird, dann aber funktioniert das digitale Lesen - und zwar in zahlreichen Sprachen, wie Maik Maurer an koreanischen Schriftzeichen genauso zeigen kann wie an englischen oder deutschen Begriffen.

Es geht dabei nicht um Lesegenuss, sondern um Geschwindigkeit. Um das effiziente Erfassen der vielen Botschaften, Tweets und Mails, mit denen der moderne Mensch konfrontiert ist. Die Digitalisierung hat diese Form des Publizierens demokratisiert und vor allem beschleunigt. Entgegen aller kulturpessimistischer Sorge ist man heute mit viel mehr Text konfrontiert als vor dreißig Jahren. In der nächsten Phase der digitalen Revolution helfen Modelle wie Spritz, diese schneller und effizienter zu erfassen. Denn der unschätzbare Wert von redicle und ORP liegt in deren geringer Größe: Ein redicle braucht weniger Platz als eine Zeitungsseite oder ein Bildschirm, es braucht auch weniger Platz als ein Smartphone-Display, es kann theoretisch auf dem Zifferblatt einer Uhr oder der Innenseite einer Brille angezeigt werden.

Das sind die Orte, um die sich Handy-Hersteller und die großen Türwächter des Web gerade streiten. Sogenannte Smartwatches und Datenbrillen wie Google Glass werden als tragbare Computer die Rolle übernehmen, die Handys heute haben: Kommunikationszentrale für Austausch und Inhalte. Mit einer Lesetechnik wie Spritz werden auch diese kleinsten Displays zu Leseflächen. Ein Text braucht keine Seitenbreite mehr, sondern Platz für ein Wort (ein redicle) und die digitale Darstellung. Deshalb werden die Macher ihre neue Lesetechnik in der kommenden Woche auch auf einer Mobilfunk- und nicht auf einer Buchmesse präsentieren. Doch auch für die klassische Kulturbranche wird diese Erfindung Folgen haben.

Die Hersteller kleinster Displays und digitale Inhaltsvermarkter schauen bereits mit Interesse auf den ORP. Denn dieser ermöglicht dem Lesenden höhere Geschwindigkeit. Anbieter versetzt er aber auch in die Lage, mehr über die Lektüre zu erfahren und sie ganz anders zu vermarkten. Das wirkt verstörend: Eine neue, fremde Welt, in der Autoren plötzlich erfahren können, an welchen Stellen ihre Leser am häufigsten die Lektüre abbrechen. Ein ungewohntes Umfeld, in dem Verlage Texte nun nicht mehr nur im Paket (Buch) verkaufen können, sondern nach der Anzahl der tatsächlich gelesenen Wörter (Pay per Word).

In diesen neuen Räumen werden Texte zu Software, die nicht mehr von den Optionen des Trägermediums Papier geprägt ist, sondern den Bedingungen des Digitalen gehorcht. Wer mit der Produktion von Texten Geld verdienen will, sollte sich diesen Wandel sehr genau anschauen. Er könnte ähnlich chaotische Folgen haben wie die Revolution des Publizierens.

© SZ vom 24.02.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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