Russland:Lenins Marktwirtschaft

Russland: Passanten in der Moskauer U-Bahn vor einem Porträt des Revolutionärs Wladimir Iljitsch Lenin.

Passanten in der Moskauer U-Bahn vor einem Porträt des Revolutionärs Wladimir Iljitsch Lenin.

(Foto: Pavel Golovkin/AP)

Vor 100 Jahren verordnete der kommunistische Revolutionär Russland die "Neue Ökonomische Politik". Es war der waghalsige Versuch, mit kapitalistischen Methoden den Sozialismus einzuführen. Das Experiment wirkt bis in die Gegenwart nach.

Von Nikolaus Piper

Einer der besten Zeugen für die Vorzüge der Marktwirtschaft ist Wladimir Iljitsch Lenin. Vor 100 Jahren, im März 1921, verkündete der Revolutionär auf dem zehnten Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands die "Neue Ökonomische Politik (NEP)". Sie brachte die Lockerung der Wirtschaftsdiktatur, die die Bolschewiki nach ihrer Machtergreifung 1917 errichtet hatten. Märkte wurden wieder zugelassen, die größte Armut überwunden, die Erträge der Landwirtschaft stiegen, der Terror ließ nach, das Kulturleben blühte auf, wenn auch in engen Grenzen. Die NEP bedeute die "Entwicklung der im Entstehen begriffenen sozialistischen Wirtschaft mit kapitalistischen Mitteln", sagte der Revolutionär Leo Trotzki 1922 vor Delegierten der Kommunistischen Internationale.

Die NEP ist heute fast vergessen. Deren Beispiel wirkte jedoch nach, bis in die jüngste Vergangenheit. Immer dann, wenn Reformer den Sozialismus effizienter und menschenfreundlicher machen sollten, konnten sie sich auf Lenins Idee berufen. Der Begründer Sowjetrusslands ist insofern ein glaubwürdiger Zeuge für die Marktwirtschaft, als er ursprünglich etwas ganz anderes im Sinn hatte, nämlich "die allgemeine Arbeiterkontrolle über die Kapitalisten und ihre Anhänger, das Monopol des Staates über die Verteilung von Brot, Brotkarten und eine allgemeine Arbeitspflicht". Bereits zwei Tage nachdem Lenin und seine Leute die Macht ergriffen hatten, erließen sie ein Dekret über die entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes. Das Land sollte unter Kleinbauern verteilt werden. Im Dezember 1917 wurden die Banken verstaatlicht.

Die Menschen überlebten nur dank der Schattenwirtschaft

Historiker nennen diese Phase der russischen Wirtschaftsgeschichte in der Regel "Kriegskommunismus", was den Eindruck erweckt, als sei den Bolschewiki der Kurs durch den russischen Bürgerkrieg aufgezwungen worden. Der jedoch begann erst im März 1918. Ihren Wirtschaftskrieg gegen große Teile der russischen Bevölkerung, vor allem Bauern und Bürgertum, führten die Bolschewiki jedoch von Anfang an. Mit Maschinengewehren bewaffnete Arbeitertrupps zogen durch die Dörfer und beschlagnahmten alles, was sie für "Überschüsse" der Bauern hielten. Diese hatten keine Anreize und meist keine Mittel mehr, um ihre Böden weiter zu bewirtschaften. Das Land lag brach, der Hunger nahm zu. Die Industrieunternehmen wurden der Aufsicht von Arbeiterräten unterstellt. Die Eigentümer sollten pflichtbewusst weiter arbeiten, was sie aber angesichts der ständigen Eingriffe der inkompetenten Räte nicht taten. Die Produktion brach zusammen.

Die Menschen überlebten nur dank der Schattenwirtschaft. Der bürgerliche Politiker Nikolai Ustrjalow schrieb 1925 rückblickend aus dem Pariser Exil: "Ein Mensch, der beschlossen hätte, sich den kommunistischen Dekreten zu fügen, wäre ein paar Wochen nach seinem Beschluss Hungers gestorben, denn 'legal' war außer dem bekannten Achtel zweifelhaften Brotes und außer einem Teller Brühe aus fauligen Kartoffeln nichts aufzutreiben."

Schließlich dämmerte es Lenin, dass es so nicht weitergehen konnte. Die Ernte des Jahres 1920 war schlecht gewesen, der Ertrag entsprach gerade einmal der Hälfte einer durchschnittlichen Vorkriegsernte. In Zentralrussland brach wegen der Zwangsrequirierungen ein Bauernaufstand aus. Die Aufständischen kämpften einen erbitterten Guerillakrieg gegen die Rote Armee. Und im Februar 1921 erhoben sich Matrosen der Sowjetmarine in Kronstadt gegen die Herrschaft der Kommunisten.

Die Regierung führte eine Parallelwährung ein

Der erste und vielleicht wichtigste Beschluss im Zuge der NEP war der Verzicht auf weitere Requirierungen und deren Ersatz durch eine maßvolle Steuer. Was nach der Steuer übrig blieb, durften die Bauern behalten. Sie konnten so wieder rational wirtschaften und sich einen bescheidenen Wohlstand verdienen. Der private Handel, der unter dem Kriegskommunismus verboten war, lebte wieder auf, was die Versorgungskrise linderte. Um trotz der grassierenden Inflation Geschäfte zu ermöglichen, führte die Regierung 1922 eine wertbeständige Parallelwährung ein, den "Tschernowez".

Auch die Abschottung des Landes wurde weniger strikt. Russland brauchte dringend Exporte, um im Gegenzug lebenswichtige Produkte einführen zu können. Westliche Kapitalisten entdeckten die russischen Kommunisten als Geschäftspartner. Armand Hammer, der exzentrische Spross einer amerikanischen Unternehmerfamilie, reiste 1921 nach Russland und handelte mit Lenin persönlich eine Konzession aus, unter der er amerikanischen Weizen in Russland verkaufen konnte. Die Deutsche Bank, die schon im Zarenreich aktiv gewesen war, kehrte nach Russland zurück.

Die Gesellschaft begann sich wieder zu differenzieren, ganz anders, als es die kommunistische Ideologie verlangte. Eine Schicht wohlhabender Bauern ("Kulaken") entstand, einige Unternehmer wurden dank der NEP reich, es gab auch Arbeitslose. Nikolai Bucharin, Ökonom, Kommunist und einer der wichtigsten Vordenker der NEP, forderte die Bauern 1925 sogar auf: "Bereichert euch, akkumuliert und entwickelt eure Wirtschaft." Für kommunistische Ohren klang das damals ziemlich frivol.

Zu spät kam die NEP allerdings, um eine der schlimmsten Hungerkatastrophen der russischen Geschichte zu verhindern. Der große Hunger begann 1921, verursacht durch schlechte Ernten und die Misswirtschaft des Kriegskommunismus. Annähernd fünf Millionen Menschen starben nach zeitgenössischen Schätzungen. Die kommunistische Regierung war hilflos. Dass alles nicht noch schlimmer wurde, war der humanitären Hilfe vom Klassenfeind zu danken, darunter der britische Save the Children Fund und die American Relief Administration unter dem späteren US-Präsidenten Herbert Hoover.

Am 21. Januar 1924 starb Lenin. Aus den anschließenden Machtkämpfen ging der Generalsekretär der Partei, Josef Stalin, als Sieger hervor. Er verordnete das Ende der NEP. 1928 trat der erste Fünfjahresplan Sowjetrusslands in Kraft. Die forcierte und von mörderischen Exzessen begleitete Industrialisierung des Landes hatte begonnen. Den blutigen Säuberungen fielen auch die Befürworter der NEP zum Opfer. Nikolai Bucharin wurde 1938 in Moskau erschossen. Trotzki musste 1928 ins Exil gehen und wurde 1940 von sowjetischen Agenten in Mexiko ermordet.

In der DDR war das "Neue Ökonomische System der Leitung und Planung" in Grenzen erfolgreich

Die Erinnerung an die NEP aber - "Sowjetrusslands sieben reiche Jahre", wie die Hamburger Zeit schrieb, blieb am Leben. Nach dem Tod Stalins versuchten immer wieder Wirtschaftsreformer, daran anzuknüpfen. In der DDR überzeugten Wirtschaftsexperten Parteichef Walter Ulbricht 1963 von einem "Neuen Ökonomischen System der Leitung und Planung". Das war in Grenzen erfolgreich, ließ die Konservativen in Moskau und Ostberlin aber um die Macht der SED fürchten. 1971 stürzte Erich Honecker Ulbricht und führte die "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" ein. Das hatte zur Folge, dass die DDR konsequent über ihre Verhältnisse lebte. Drei Jahre zuvor hatten Reformer in der Tschechoslowakei den "Prager Frühling" möglich gemacht, mit begrenzten Wirtschaftsfreiheiten und unbegrenzter Meinungsfreiheit. Sowjetische Truppen beendeten das Experiment am 21. August 1968.

Und dann kam das Jahr 1983. Damals forderte die Soziologin Tatjana Saslawskaja zusammen mit anderen Wissenschaftlern der sowjetischen Akademie der Wissenschaften in ihrem "Nowosibirsker Manifest" Perestroika (Umbau) und Glasnost (Offenheit). Michail Gorbatschow machte sich die Forderung zu eigen, als er 1985 Generalsekretär der Kommunistischen Partei wurde. Am Ende stand die Erkenntnis, dass die beste Methode, den Sozialismus effizienter und menschenfreundlicher zu machen, darin besteht, ihn abzuschaffen.

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