Lehren aus dem Fall Siemens:Was haften bleibt

Der Fall Siemens und seine Folgen: Spätestens jetzt weiß jeder Manager und Kontrolleur, welche Vorkehrungen er gegen kriminelle Geschäfte treffen muss. Herausreden gilt künftig nicht mehr.

Hans Leyendecker und Klaus Ott

Nach der Aktienrechtsreform von 1884 fand sich im Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch die Norm (Artikel 226), dass die Mitglieder des Vorstandes, "welche ihre Obliegenheiten verletzen", der "Gesellschaft solidarisch für den entstandenen Schaden" haften. Sie hätten "die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns anzuwenden". Im Handelsgesetzbuch von 1897 steht die Passage, sie hafteten als "Gesamtschuldner".

Lehren aus dem Fall Siemens: Ein Vorstand unter Verdacht: Was der ehemaligen Siemens-Führung blüht - sehen Sie in dieser Grafik.

Ein Vorstand unter Verdacht: Was der ehemaligen Siemens-Führung blüht - sehen Sie in dieser Grafik.

(Foto: Grafik: SZ)

Ein paar Begriffe haben sich seitdem verändert. Aus der "Obliegenheitsverletzung" ist die "Pflichtverletzung" geworden, aus dem "ordentlichen Geschäftsmann" wurde ein "ordentlicher Geschäftsleiter" - der Begriff "Gesamtschuldner" ist geblieben.

Der Bonner Gesellschaftsrechtler Marcus Lutter weist darauf hin, dass sich die "Normen zu Haftung und Verantwortung" als "ungewöhnlich stabil erwiesen" hätten. In jüngerer Zeit jedoch seien etwa bei Vorständen die Pflichten "ständig ausgeweitet worden, mit der Folge, dass Pflichtverletzungen heute sehr viel leichter möglich sind". Was aber in mehr als hundert Jahren nicht möglich schien, passiert in diesen Tagen bei Siemens in München: Ein gesamter Vorstand soll in Haftung genommen werden, den angeblich von ihm angerichteten Schaden auszugleichen. Das will der Aufsichtsrat in der kommenden Woche beschließen.

Spekulationen über die Folgen

Dieser Vorgang ist in Deutschland ebenso einmalig, wie der Korruptionsfall selbst - 1,3 Milliarden Euro dubiose Zahlungen binnen weniger Jahre hat es noch nie in einem Schmiergeldfall gegeben. Jedenfalls sind noch nie Durchstechereien in dieser Größenordnung bekannt geworden. Der Fall markiert in vielerlei Hinsicht Neuland, und das nicht nur wegen der Dimensionen des Wirtschaftskrimis. Koryphäen des Aktien- und Gesellschaftsrechts sind gefragter denn je, vielen Unternehmen ist guter Rat teuer.

Manager wie Kontrolleure wollen wissen, was sie alles beachten müssen, um nicht eines Tages ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt zu sein. In der deutschen Wirtschaft gibt es eine neue Zeitrechnung: vor und nach Siemens. Ein führender Industrieller des Landes sagt, sollte einmal ein Großunternehmen in eine ähnliche Lage wie Siemens geraten, werde die Sache für die Verantwortlichen verheerend enden. Schließlich wisse man jetzt ja, welche Vorkehrungen gegen kriminelle Geschäfte zu treffen seien.

Wie schlimm es die ehemaligen Zentralvorstände von Siemens treffen könnte, darüber wird in diesen Tagen viel spekuliert, im Unternehmen selbst wie auf den Fluren des Münchner Landgerichts, wo der erste, viel beachtete Prozess in der Schmiergeldaffäre läuft. Manche meinen, am Ende werde keiner der Ex-Manager mit seinem privaten Vermögen haften müssen. Die amerikanische D&O-Versicherung, deren korrekte deutsche Bezeichnung "Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung für Organmitglieder juristischer Personen" heißt, werde den Schaden schon regeln.

Lesen Sie im zweiten Teil, wieso der Versicherungskonzern Arag durch rechtswidrige Geschäfte des Vorstandschefs 40 Millionen Euro verlor - und dafür keinen Schadensersatz forderte.

Was haften bleibt

Doch das ist zweifelhaft. Zum einen liegt die Deckungssumme bei Siemens für solche Fälle nur bei insgesamt 250 Millionen Euro, zum anderen kann (wie auch sonst) der Versicherungsschutz abgelehnt werden, wenn etwa grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz in Rede stehen. Darum könnte es gerade in dieser Causa gehen.

Lehren aus dem Fall Siemens: Der Fall Siemens: Lehren für Manager.

Der Fall Siemens: Lehren für Manager.

(Foto: Foto: AP)

Die Düsseldorfer Kanzlei Hengeler Mueller hat für Siemens die Rechtslage geprüft. Den Fall übernahm mit Michael Hoffmann-Becking, 65, einer der erfahrensten und bedeutendsten deutschen Aktienrechtler. Wer seine Empfehlung nachvollziehen will, den Ex-Vorstand auf Schadensersatz zu verklagen, kommt zu einem verblüffenden Ergebnis: Angesichts der Rechtslage und der Ereignisse bei dem Weltkonzern bleibt dem Aufsichtsrat von Siemens "gar keine andere Möglichkeit", wie ein Mitglied des Kontrollgremiums sagt.

Wegweisend, das hat der bei Hengeler intern nur "HB" genannte Anwalt betont, sei ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) aus dem Jahr 1997. Der Versicherungskonzern Arag hatte durch rechtswidrige Geschäfte des früheren Vorstandschefs umgerechnet 40 Millionen Euro verloren.

Erhöhtes Haftungsrisiko

Die Mehrheit im Aufsichtsrat hatte es abgelehnt, dafür Schadensersatz zu fordern. Auf die Klage der Minderheit hin billigte der BGH zwar dem Vorstand einen weiten Handlungsspielraum zu, "ohne den eine unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar" sei. Darunter fielen auch "Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen". Aber bei "pflichtwidrig handelnden" Vorstandsmitgliedern habe das Kontrollgremium gar keine andere Wahl, als Schadensersatz zu verlangen. Die "Verfolgung der Schadensersatzansprüche" müsse "die Regel" sein. Der Aufsichtsrat dürfe "nur dann ausnahmsweise" von einer solchen Forderung "absehen, wenn gewichtige Interessen und Belange der Gesellschaft dafür sprechen, den ihr entstandenen Schaden ersatzlos hinzunehmen". Welche Interessen sollte der Siemens-Aufsichtsrat haben, den Schaden einfach zu akzeptieren? Handelt es sich nicht um pflichtwidriges Verhalten? Immerhin ermittelt wegen solcher Fragen auch die Staatsanwaltschaft.

Seit der Arag-Entscheidung hat sich das Haftungsrisiko von Vorständen, Geschäftsführern und auch Aufsichtsräten drastisch erhöht. Große Kanzleien berichten von vielen Fällen, die geräuschlos geregelt worden seien. Aber geräuschlos geht bei Siemens schon lange nichts mehr.

Lesen Sie im dritten Teil, wie bei Siemens Warnungen systematisch verschleiert wurden - und wie es bei dem Konzern in der Korruptionsaffäre weitergehen wird.

Was haften bleibt

Auch gibt es gewichtige Gründe für eine Klage auf Schadensersatz. Bei Siemens war das Compliance-System, das die Einhaltung von gesetzlichen Regeln und internen Standards sicherstellen soll, ein Torso, und das ist noch eine freundliche Umschreibung. Er habe, sagte der frühere Compliance-Chef Albrecht Schäfer im Schmiergeldprozess als Zeuge aus, zu wenig Leute gehabt. Die Rechtsabteilung soll vor Jahren dem Zentralvorstand vorgerechnet haben, der Konkurrent General Electric habe zehnmal mehr Personal für Compliance und betreibe einen weit größeren Aufwand bei der Verfolgung von Verstößen.

Es gibt sogar Hinweise darauf, dass Warnungen systematisch und damit pflichtwidrig verschleiert wurden. Die amerikanische Kanzlei Debevoise & Plimpton, die im Auftrag des Konzerns das Unternehmen durchleuchtet, warf vor ein paar Monaten bei einer Siemens-Aufsichtsratssitzung im Wortsinn einen solchen Vorwurf an die Wand: Die Anwälte projizierten nebeneinander auf die Leinwand einen Bericht an den Vorstand und einen Bericht an den Aufsichtsrat. In dem Vorstandsbericht aus dem Jahr 2003 fand sich die Einschätzung eines Mailänder Gerichts, das einen konkreten Korruptionsfall behandelte, Siemens betrachte "Schmiergeldzahlungen als mögliche Unternehmensstrategie".

In dem Bericht an das Kontrollgremium fehlte genau dieser Satz. Unterlassung kann riskant sein. In dem Standardwerk "Handbuch Managerhaftung" wird im Abschnitt "Compliance als Konzernleitungsaufgabe" ausgeführt, "auch unter Berücksichtigung der persönlichen Haftungs- und Strafbarkeitsrisiken" sollte der Vorstand solchen Risiken "durch geeignete Maßnahmen im Konzern vorbeugen". Haftung komme auch dann infrage, wenn der Vorstand "zwar nicht selbst aktiv gegen ein gesetzliches Verbot verstoßen", sondern "gebotene Compliance-Maßnahmen unterlassen" habe. Er habe dann womöglich seine Sorgfaltspflichten verletzt.

"Ein Gebot der Gerechtigkeit"

In mehreren Stufen soll es jetzt bei Siemens weitergehen: Zuerst werden die Ex-Vorstände mit den Vorwürfen konfrontiert. Dann soll ein Gericht feststellen, dass ein Schaden entstanden und auszugleichen sei. Hat die sogenannte "Feststellungsklage" Erfolg, soll in einem weiteren Verfahren der konkrete Schaden beziffert werden. Am Ende wird dann das "Innenverhältnis" der Vorstandsmitglieder ausgeleuchtet: Wer trägt welche Schuld.

Gesellschaftsrechtler Lutter hat in dem von ihm mitherausgegebenen "Aktiengesetz Kommentar" die Bedingungen formuliert: "Unterschiedliche Verantwortlichkeiten" könnten zu "unterschiedlichen Haftungsbeiträgen" führen. "Das ressortzuständige Vorstandsmitglied" könne "stärker heranzuziehen sein als andere Vorstandsmitglieder, die nicht unmittelbar zuständig waren". Der Vorstandschef hafte unter Umständen "stärker als einfache Vorstandsmitglieder". Es sei "ein Gebot der Gerechtigkeit", hat Lutter mal altmodisch-schön geschrieben, "wenn der fehlsam handelnde Verwalter den von ihm angerichteten Schaden auszugleichen verpflichtet ist".

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