Lebensversicherungen:Umstrittene Policen

In den Schubladen der Deutschen liegen etwa 90 Millionen Lebensversicherungs-Verträge. Die meisten garantieren eine lebenslange Rente und zwingen zum Sparen. Doch es gibt Zweifel.

Von Friederike Krieger und Patrick Hagen, Köln

Die Lebensversicherer in Deutschland eint eine feste Überzeugung: Sie sind unverzichtbar für die Altersvorsorge der Bevölkerung. "Die Lebensversicherung ist das einzige private Altersvorsorgeprodukt, das eine lebenslange Rentenzahlung garantiert", sagt Peter Schwark, Mitglied der Geschäftsführung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). "Versicherte, die überdurchschnittlich alt werden, bekommen auch dann noch ihre Rente, wenn das von ihnen eingezahlte Kapital nebst Zinsen und Überschüssen aufgebraucht ist."

Das Argument ist wichtig für die aktuelle Verkaufskampagne der Versicherer. "Du lebst sieben Jahre länger als Du denkst", heißt es in bunten Broschüren und Werbespots. Ob allerdings die Lebensversicherung das richtige Instrument dafür ist, mit den finanziellen Folgen der steigenden Lebensdauer fertig zu werden, ist bei Experten hoch umstritten.

Dabei ist Lebensversicherung nicht gleich Lebensversicherung. Jahrzehntelang dominierten die "klassischen" Policen. Der Kunde zahlt dabei monatlich eine Summe ein, der Versicherer garantiert eine Mindestverzinsung auf den Sparanteil, also Prämie minus Kosten und möglichem Risikoschutz.

Die Garantien erreichten in den Neunzigerjahren vier Prozent - schließlich boten die Banken sieben Prozent für Spargelder. Da war die Garantie ein wichtiges Argument im Wettbewerb. Das zweite Argument: Wenn der Vertrag ausläuft, bleiben die Erträge weitgehend steuerfrei. Ein Nachteil: Wenn der Kunde vorzeitig kündigt, wie bei etwa der Hälfte aller Verträge, verliert er viel Geld.

Doch die Tage der "Klassik" sind gezählt. Generali, Debeka, Württembergische, Ergo und viele andere verkaufen diese Verträge wenn möglich gar nicht mehr. Nur bei betrieblichen Verträgen machen sie eine Ausnahme. Andere wie die Allianz wollen die Zahl der Klassik-Verträge deutlich senken. Denn die hohen Zinsgarantien der Neunzigerjahre erweisen sich heute als Gift für die Unternehmen, sie haben immer mehr Probleme, die vier oder 3,5 Prozent zu erwirtschaften. Dazu kommt, dass der Garantiezins für neue Verträge laut Verordnung der Bundesregierung nur noch höchstens 1,25 Prozent betragen darf, ab 2017 sogar nur noch 0,9 Prozent. Das ist wenig attraktiv für die Kunden.

Schließlich hat die Lebensversicherung den größten Teil ihrer Steuervorteile verloren. Die Erträge müssen voll oder - bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen - zur Hälfte versteuert werden. Für Neukunden wird die "Klassik" also immer unattraktiver - aber Kunden mit Altverträgen, die hohe Zinsgarantien haben, sollten sie genau deshalb auf keinen Fall kündigen.

Auch die Versicherer haben die Lust an klassischen Verträgen verloren. Sie verkaufen inzwischen lieber "kapitalmarktnahe Produkte". Damit meinen sie meistens Investmentfonds, die sie in einen Versicherungsmantel packen. Als Garantie versprechen sie nur noch den Kapitalerhalt. Das Risiko, am Kapitalmarkt Geld zu verlieren, trägt bei den Klassik-Angeboten der Versicherer; bei den neuen Verträgen liegt das Risiko zum größten Teil beim Kunden.

Ein Renditeturbo war die klassische Lebensversicherung noch nie. Dafür sorgen neben der konservativen Anlagepolitik die vergleichsweise hohen Kosten. Im Durchschnitt gehen etwa zehn Prozent von jedem Prämien-Euro, den der Kunde einzahlt, für Vertriebs- und Verwaltungskosten drauf. Bei manchen Gesellschaften sind es auch 20 Prozent und mehr. Jedes Jahr zahlen die Lebensversicherer mehr als sieben Milliarden Euro Abschlusskosten aus, das meiste als Provisionen an Vermittler. Dazu kommen zwei Milliarden Euro für die Verwaltung. Die Gesellschaften berechnen dies den Kunden und ziehen die Beträge von den Prämien ab.

Lebensversicherungen: Illustration: Stefan Dimitrov

Illustration: Stefan Dimitrov

"Die Lebensversicherung war noch nie für die Altersvorsorge geeignet", meint Axel Kleinlein, Chef des Bundes der Versicherten (BdV). Die Policen seien immer nur für wenige Kunden sinnvoll gewesen, die damit Steuerspareffekte erzielen wollten. Das gelte immer noch. So könnten Kunden in Rürup-Rentenversicherungen, die ebenfalls zu den Lebensversicherungen zählen, größere Beträge steuerfrei einzahlen. Die staatlich geförderten Policen seien aber nicht für jeden Kunden geeignet. "Unter dem Strich fahren nur wenige Kunden mit einer Lebensversicherung gut", sagt er.

Der Verbraucherschützer, der einst als Versicherungsmathematiker arbeitete, hält dagegen Risikolebensversicherungen für sinnvoll. Damit kann der Kunde seine Familie und andere - beispielsweise eine Bank für das Darlehen beim Hauskauf - für den Fall absichern, dass er stirbt. "Da macht eine Lebensversicherung Sinn", sagt Kleinlein. Eine Verbindung dieser Risikoabsicherung mit einer Kapitalanlage, wie es bei kapitalbildenden Lebensversicherungen üblich ist, lehnt er ab. "Alles, was kapitalbildend an der Police ist, hat keine Existenzberechtigung", glaubt er.

Bevor sich Verbraucher um die Altersvorsorge Gedanken machen, sollten sie Schulden tilgen

Bevor sich Verbraucher um die Altersvorsorge Gedanken machen, sollten sie zunächst Schulden tilgen und sich gegen existenzbedrohende Risiken absichern. Das gilt vor allem für die Gefahr, wegen Krankheit oder Unfall den Beruf nicht mehr ausüben zu können. "Was nützt ein Altersvorsorgevertrag, wenn man ihn vor der Rente auflösen muss, weil man Geld braucht?" fragt Kleinlein. Wenn der Kunden entsprechend abgesichert ist, kommt es bei der Frage nach der richtigen Altersvorsorge auf die individuelle Situation an. Vielleicht sei ein Banksparplan sinnvoll, vielleicht aber auch der Kauf einer Immobilie oder der Abschluss einer Betriebsrente, erklärt er. "Es gibt keinen Königsweg."

Finanzexperte Niels Nauhauser von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg plädiert dafür, Vermögensaufbau und Rentenzahlung zu trennen. "Es geht zunächst darum, möglichst viel Vermögen aufzubauen, dafür braucht man keine überteuerte Versicherung." Niemand müsse mit 30 schon entscheiden, ob er eine lebenslange Rente braucht, sagt Nauhauser.

Ihre Daseinsberechtigung hätten die Versicherer bei der Verrentung des angesparten Geldes. "Wenn Verbraucher den Bedarf haben, eine lebenslange Rente zu bekommen, kommt eine Rentenversicherung in Frage", sagt er. "Allerdings muss man je nach Kalkulation der Versicherung sehr alt werden, um mehr Geld zu bekommen als man eingezahlt hat", sagt er. Seine Forderung: Gewinne, die entstehen, weil nicht alle Versicherten so lange leben wie erwartet, müssen komplett und zeitnah den überlebenden Versicherten gutgeschrieben werden. Zurzeit bekommen sie mindestens 90 Prozent dieser Gewinne, der Versicherer maximal zehn Prozent.

Versicherungsanalyst Carsten Zielke, der unter anderem die EU-Kommission berät, sieht die Lebensversicherung nicht so negativ wie die Verbraucherschützer. Zielke macht einen entscheidenden Vorteil der Lebensversicherung gegenüber Anlagen wie Fondssparplänen aus: Sie zwingt die Menschen zu sparen. "Aus einem Fondssparplan wird schnell mal Geld entnommen, oder es wird nicht mehr eingezahlt, weil der Sparer beispielsweise einen Fernseher kaufen will", sagt er. Das sei bei einer Lebensversicherung nicht so ohne weiteres möglich. Ob eine Lebensversicherung aber auch eine gute Altersvorsorge sein kann, hängt aus Zielkes Sicht von der Kapitalanlagepolitik des Anbieters ab. "Wenn der Kunde an einer professionell gemanagten Kapitalanlage teilhaben kann, die er selbst so nicht auf die Beine stellen könnte, kann eine Lebensversicherung eine geeignete Altersvorsorge sein."

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Wenn sie selbst investieren, neigen viele Sparer zu Panikverkäufen, wenn die Kurse fallen. Oder sie kaufen Papiere auf dem Höhepunkt eines Booms, wenn sie besonders teuer sind, hat Zielke beobachtet. "Die Lebensversicherung zwingt zu antizyklischem Handeln", sagt er. "Aber wenn beim Anbieter eine Monokultur von Kapitalanlagen in festverzinslichen Wertpapieren vorherrscht, bringt das nichts."

"Rund 90 Prozent der Lebensversicherungen sind vom Zinsniveau abhängig."

Das sei leider bei vielen Anbietern der Fall. "Eines der größten Probleme der Lebensversicherung ist die oft einseitige Kapitalanlage", sagt er. "Rund 90 Prozent sind direkt vom Zinsniveau abhängig." Die Versicherer stecken zu viel Geld in Staatsanleihen und investieren zu wenig in renditeträchtigere Sachwerte wie Aktien, Infrastruktur und Immobilien, argumentiert der Experte. Zwar haben die Versicherer noch viele ältere, gut verzinste Staatsanleihen in ihren Büchern. Doch die laufen nach und nach aus. Andere Papiere müssen die Versicherer vorzeitig verkaufen, um die sogenannte Zinszusatzreserve stellen zu können. Diese Reserve soll sicherstellen, dass die Versicherer die hohen Zinsversprechen der Vergangenheit einhalten können.

Zielke glaubt, dass das alles nicht mehr lange gut gehen kann. In etwa zwei Jahren seien die Lebensversicherer nicht mehr dazu in der Lage, die Zinszusatzreserve in voller Höhe zu stellen, erwartet er. "Dann sind die Altbestände an Lebensversicherungen nicht mehr finanzierbar, und es drohen Leistungskürzungen." Der GDV und die Verbraucherschützer des BdV drängen die Regierung deshalb dazu , die Berechnungsmethode für diese Reserve zu ändern. "Das würde das Problem aber nur nach hinten verschieben", glaubt Zielke.

Einige Pensionskassen, die sich um die betriebliche Altersversorgung kümmern, haben bereits damit begonnen, die Garantiezinsen für Bestandskunden zu senken. Das könnte nach Auffassung Zielkes auch bei Lebensversicherern passieren, hier muss allerdings die Finanzaufsicht Bafin einen entsprechenden Schritt anordnen. Was für Verbraucherschützer ein Albtraum wäre, hält er nicht für die schlechteste Idee - auch aus Kundensicht. "Was nützt mir eine Garantie, die nicht eingehalten werden kann?", fragt Zielke. "Dann verzichte ich lieber auf die Garantie und profitiere von einer nachhaltig höheren Rendite", resümiert er.

Ohne die Garantiezusagen und mit einer anderen, sachwertorientierten Kapitalanlage könnten Lebensversicherer mehr erwirtschaften. Da diese Anlagen riskanter sind, bräuchten die Versicherer dann allerdings mehr Eigenkapital. Zielke fordert, dass die branchenweit 32 Milliarden Euro schweren Zinszusatzreserven in Eigenkapital umgewandelt werden. Zum anderen benötigten die Lebensversicherer eine Kapitalerhöhung durch die Eigner, verlangt er.

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