Süddeutsche Zeitung

Lebenserwartung in Deutschland:Dringend gesucht: Ideen gegen Armut

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Nirgends in der Euro-Zone sind die Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland. Der Staat kann und muss viel mehr tun, um zu helfen.

Kommentar von Alexander Hagelüken

Der Kontrast fällt auf. Männer im reichen Starnberg, am Bodensee oder im Bankerhort Hochtaunus werden im Schnitt mehr als 80 Jahre alt. Wer dagegen in strukturschwachen Städten wohnt, in Pirmasens, Emden oder in Hof an der tschechischen Grenze, hat acht Jahre weniger zu leben. Noch deutlicher wird der Unterschied, beleuchten Forscher nur die Lebenszeit, die jemand gesund verbringt. Hier klafft es bei Gut- und Geringverdienern unabhängig vom Wohnort gleich um 14 Jahre auseinander.

Kein Grund mehr, stolz zu sein

14 Jahre? Solche Zahlen passen dazu, dass die Deutschen gerade über die Spaltung ihrer Gesellschaft diskutieren. Sie waren immer so stolz, dass es hierzulande gerechter zugeht als in den Vereinigten Staaten. Doch seit die Globalisierung Arbeiter und Kapitalisten neu sortiert, reißt eine große Lücke auf. Einkommen aus Firmenbesitz und Vermögen nahmen seit der Jahrtausendwende viermal so stark zu wie die Löhne. Nirgends in der Euro-Zone ist das Vermögen so ungleich verteilt wie in der Bundesrepublik. Und die Lebenserwartung fällt bei Gut- und Geringverdienern stärker auseinander als in den egalitäreren Neunzigerjahren. Beschämend für ein reiches Land, das als Europas Boomwunder gefeiert wird.

Lässt sich das frühe Sterben der Ärmeren also einfach verhindern, in dem mehr von oben nach unten umverteilt wird? Die Antwort darauf lautet Ja und Nein.

Ja, weil Geld natürlich eine Rolle spielt. Wer aus einer bildungsfernen Familie kommt und kaum die Hauptschule schafft, bleibt oft in monotonen, körperlich schweren Jobs gefangen, die auslaugen. Muss er dann noch in eine billige Wohnung an der Ausfallstraße ziehen, machen ihn Lärm und Abgase schneller krank. Und er kann sich nur schlechtere medizinische Behandlung leisten als Begüterte. So kommt es, dass ein Herzinfarkt die Lebenserwartung von Gutverdienern nur um vier Jahre reduziert - von Geringverdienern aber um elf Jahre. Krank sind sie beide, doch das Geld verursacht einen Unterschied. Mehr Bildung, mehr Einkommen und bessere Wohnungen würden helfen, Deutschland gerechter zu gestalten.

Trotzdem würde sich die Lebenserwartung zwischen Reich und - jetzt weniger - Arm wohl nur annähern, nicht ausgleichen. Denn für seine Gesundheit trägt auch jeder selbst Verantwortung, unabhängig vom Einkommen. Die Daten zeigen: Das Viertel der Gesellschaft mit den schwereren Jobs und den geringeren Löhnen isst mehr Fastfood, raucht mehr und bewegt sich weniger. Hört das komplett auf, wenn die Menschen etwas mehr verdienen? Vermutlich nicht.

Der Staat sollte auch andere Wege testen, um die Gesundheit der Benachteiligten zu verbessern. Die Forschung liefert spannende Ansätze. So wirken etwa Appelle und Kampagnen, die über den Schaden von Zigaretten aufklären, nur eingeschränkt. Die Raucherzahlen sinken aber, wenn höhere Steuern das Qualmen verteuern und Werbung verboten wird. Solch eingriffige Politik funktioniert auch sonst. Wenn Lärm und Abgase in Städten reduziert werden, profitieren sozial Benachteiligte überproportional. Modellprojekte in den USA zeigen zudem: Wer Sozialblocks in Ghettovierteln abreißt und den Mietern Wohnungen in gemischten Gegenden finanziert, hilft ihnen enorm: Die Kinder aus diesen Familien arbeiten später häufiger und verdienen 16 Prozent mehr als der Nachwuchs der Familien, die in den Blocks bleiben.

Schon klar: Für Ultraliberale ist solche Eingriffspolitik der Horror. Aber das spricht nicht unbedingt dagegen. Die Staatsschrumpfer blenden den Trend zur sozialen Spaltung ja gerne einfach aus.

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SZ vom 02.04.2016
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