Auf die naheliegendste Frage weiß Stefan Oberrieder spontan keine Antwort: Was er denn machen will mit den ganzen Stunden, die er sich seit 2019 auf einem Konto seines Arbeitgebers, des schwäbischen Maschinenbauers Trumpf, zusammenspart. Er hält kurz inne. "Vielleicht ist es einfach das gute Gefühl, dass ich eine Auszeit nehmen könnte, wenn ich irgendwann möchte," sagt der 32-jährige Wirtschaftsinformatiker. Auf Anhieb fallen ihm zig Beispiele aus dem Kollegenkreis ein, die angespartes Guthaben auf ihrem Langzeitkonto eingelöst haben. Eine Kollegin ist gerade für ein Jahr auf Weltreise, ein anderer hat seine Elternzeit verlängert.
Und das alles bei einem schwäbischen Familienunternehmen mit rund 15 000 Beschäftigten, das in einer ganz traditionellen Branche zu Hause ist: dem Maschinenbau. Dort, wo man eher erwartet, dass von der Ausbildung bis zur Rente pflichtbewusst fünf Tage die Woche mindestens 35 Stunden gearbeitet wird. Dass es bei Trumpf eine ganze Fülle an flexiblen Arbeitszeitmodellen gibt, war rückblickend aus Unternehmenssicht nicht ganz uneigennützig, gibt Personalchef Oliver Maassen zu. Denn das Geschäft im Maschinenbau läuft in Zyklen. Mal gibt es extrem viel zu tun, mal weniger. Also machte man sich bei Trumpf schon vor 25 Jahren Gedanken, wie man die Beschäftigten in den Hochphasen mehr arbeiten lassen kann - "konjunkturellen Winterspeck anfuttern" nennt Maassen das -, um diese Stunden dann in schlechteren Zeiten wieder aufbrauchen zu können. Trumpf führte schon in den 1990er Jahren ein sogenanntes Konjunkturkonto ein, auf dem Überstunden geparkt werden können. Und wenn das Geschäft kriselt, feiern die Mitarbeiter diese Zeit ab.
Über die Jahre hat sich dieses Modell weiterentwickelt, über den Inhalt wird regelmäßig neu verhandelt. Der Betriebsrat ist mit im Boot, die Mitarbeitenden geben in Umfragen an, was ihnen gefällt und was sie sich noch wünschen würden. Schon jetzt gibt es etliche Varianten: Auf einem Arbeitszeitkonto kann der Mitarbeiter bis zu 400 Überstunden ansammeln und diese dann etwa für einen längeren Urlaub nutzen. Dazu gibt es Langzeitkonten, auf die man Bonuszahlungen oder das Weihnachtsgeld packen kann. Dieses Geld kann man später in Zeit umrechnen lassen und dementsprechend eine bezahlte Auszeit nehmen, sich verstärkt um Angehörige kümmern oder etwa eine Weiterbildung machen.
Bei Trumpf kann man sich jedes Jahr neu aussuchen, wie viele Stunden pro Woche man arbeiten will
Trumpf ist nicht der einzige Arbeitgeber, der Lebensarbeitszeitkonten anbietet. "Hinter all diesen Konzepten steht zunächst der immer stärkere Wunsch der Arbeitnehmer nach flexiblerer Arbeitszeitgestaltung", sagt Jutta Rump, Professorin am Institut für Beschäftigung an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft in Ludwigshafen. Und wer als Unternehmen für Fachkräfte attraktiv sein will, komme gar nicht umhin, mehr anzubieten als ein normales Zeitkonto, bei dem Überstunden zeitnah abgefeiert werden müssen, weil sie sonst verfallen. Langzeit-Modelle klingen dagegen erst einmal wahnsinnig toll aus Sicht der Arbeitenden. Doch ganz so einfach ist es nicht.
"Jede Form von Langzeitkonto setzt erst einmal voraus, dass Arbeitszeit tatsächlich genau erfasst wird", erklärt Rump. Dies laufe aber genau entgegen einem anderen Trend, der sich gerade in der Corona-Pandemie verstärkt hat: Der Vertrauensarbeitszeit. Für viele Arbeitnehmer ist es gerade im Home-Office bequemer, sich ihre Zeit selbst einzuteilen, anstatt in starren Schichten zu arbeiten und alles haarklein zu dokumentieren. Für Langzeitkonten muss aber jede Minute genau erfasst werden. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass die Stunden in Geld umgerechnet werden müssen. Um nicht gegen die gesetzlichen Ruhezeiten zu verstoßen, müssen etwa zwischen Dienstende und Dienstbeginn elf Stunden liegen. Wer also abends um zehn noch Mails checkt, dürfte streng genommen erst morgens um neun wieder arbeiten. Muss man all das dokumentieren, wird es schnell knifflig. Auch Jutta Rump und ihre Mitarbeiter am Institut können theoretisch Stunden auf ein Langzeitkonto einzahlen. Die Erfahrungen der Institutsleiterin: "Das nutzt kaum jemand."
Seit 2011 bietet Trumpf auch eine jährliche Wahlarbeitszeit an. Einmal im Jahr können die Mitarbeitenden festlegen, wie viele Stunden pro Woche sie arbeiten wollen - zwischen 15 und 40 Stunden ist alles möglich. Die Resonanz hat Personalchef Maassen überrascht: "Eigentlich dachte ich, das machen eher die Älteren, die schon viele Jahre im Job sind und mal ein bisschen zurückfahren wollen. Aber es sind vor allem die Jungen, die Stunden reduzieren." Ein Trend, den der Personaler nicht uneingeschränkt gut findet. Wenn man solche Modelle anbietet, muss man auch mit den Konsequenzen leben. Und die können eben auch sein, dass die so begehrten jungen Fachkräfte sich lieber mehr Freizeit gönnen, als ein paar Euro mehr in der Tasche zu haben. Auch der Wirtschaftsinformatiker Oberrieder sagt: "Ab einem gewissen Punkt kommt es nicht mehr aufs Geld an, da ist Freizeit wertvoller." Auch in seinem Team arbeitet ein Kollege gerade nur vier Tage pro Woche.
Aus einer anderen Idee heraus wurde schon 2003 in einem Tarifvertrag der Gewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie die Möglichkeit eines Lebensarbeitszeitkontos vereinbart. Gerade in körperlich anstrengenden Jobs sollten Beschäftigte dadurch die Möglichkeit haben, ohne finanzielle Einbußen früher in den Ruhestand zu gehen - wofür sie aber in jungen Jahren mehr Arbeitskraft und Geld investieren müssen. Auch die Unternehmen zahlen mit einem Demografiebeitrag auf diese Konten ein. Mittlerweile bietet fast jeder zweite Betrieb in der chemisch-pharmazeutischen Industrie Langzeitkonten an, wie eine Umfrage der Gewerkschaft 2019 ergab. Immer mehr Beschäftigte würden das Angebot nutzen.
Frauen und Geringverdiener haben oft keine Möglichkeit, Geld oder Stunden anzusparen
Doch es gibt auch Kritik. "Langzeitkonten sind ein nicht wirklich geeignetes Instrument für die Verbesserung der Work-Life-Balance oder der Gesundheit, solange die Beschäftigten selbst ansparen müssen", sagt Yvonne Lott vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI). Wer ein Konto mit Überstunden oder Sonderzahlungen füllen will, muss auch die Kapazitäten dazu haben - und läuft mitunter Gefahr, sich zu überarbeiten. Gerade Frauen blieben oft außen vor. Sie arbeiten viel häufiger in Teilzeit als Männer, weil sie sich neben dem Job hauptsächlich um die Familie kümmern. Überstunden sind da meist nicht drin. In vielen Niedriglohnjobs sieht der Arbeitsalltag zudem so aus, dass Überstunden gar nicht gewährt werden, geschweige denn Geld übrig bliebe, das auf ein Langzeitkonto gehen könnte. "Das Ansparen von Zeit bedeutet auch eine Arbeitsverdichtung oder ein Verzicht auf Einkommen in der mittleren Lebensphase, oft der "Rush hour of life", wo gerade Eltern zeitliche Entlastung brauchen", sagt Lott. So schön die Idee hinter den Langzeitkonten sein mag - sozial gerecht ist sie laut der Arbeitsmarktexpertin nicht.
"Das alles hat auch eine philosophische Komponente, die man nicht unterschätzen darf", sagt Christiane Lindecke, die Unternehmen bei der Umsetzung flexibler Arbeitszeitmodelle berät. Gerade bei Lebensarbeitszeitkonten ist sie skeptisch. Man müsse sich fragen: "Ist mir eine Stunde Freizeit mit Anfang 20 genauso viel wert wie mit Ende 50?" Zudem sei gerade bei Modellen, die auf einen früheren Renteneintritt abzielen, sehr viel Unsicherheit im Spiel. Einen Horizont von ein paar Jahren könne man als Arbeitnehmer oft noch einigermaßen überblicken. Doch was die in Geld angelegten Arbeitsstunden in zwanzig oder dreißig Jahren noch wert sind, lässt sich trotz aller Absicherung nur schwer vorhersagen. Dazu wechseln viele Menschen mehrmals in ihrem Arbeitsleben den Job oder das Unternehmen. Theoretisch kann man seine gesparten Stunden dann mitnehmen, doch wenn der neue Arbeitgeber kein vergleichbares Modell anbietet, bleibt nur noch, das Geld bei der Deutschen Rentenversicherung zu belassen.
Stefan Oberrieder hat dann doch noch eine Idee, wofür er sein Langzeitkonto vielleicht leeren würde: "Sollte ich mal ein Haus kaufen, würde ich mir ein paar Monate frei nehmen, um es herzurichten." Im Bekanntenkreis erlebe er gerade, dass viele abends nach acht Stunden Arbeit und zusätzlich am Wochenende auf ihren privaten Baustellen buckeln. Das könnte er dann dank des Langzeitkontos doch deutlich entspannter angehen.