Langzeitarbeitslosigkeit:Der erste Job nach 17 Jahren

Langzeitarbeitslosigkeit: Neben Baby Prince David kniet nicht seine Oma, sondern Jobberaterin Gudrun Frank. Das Arbeitslosenmodell nimmt die ganze Familie in den Blick.

Neben Baby Prince David kniet nicht seine Oma, sondern Jobberaterin Gudrun Frank. Das Arbeitslosenmodell nimmt die ganze Familie in den Blick.

(Foto: Catherina Hess)

Viele der eine Million Langzeitarbeitslosen stecken in Hartz IV fest. Ein neues Modell bringt viele zurück in Berufe. Nun soll es deutschlandweit kommen.

Von Alexander Hagelüken

Es wäre falsch zu sagen, die Langzeitarbeitslose hätte all die Jahre nichts getan. Ella Haug*, 44, zog und zieht fünf Kinder groß. Und zwar meist allein. Spricht sie über den Vater der letzten drei Kinder, nennt sie ihn "Herr Haug". Herr Haug hat sich selten gekümmert. Frau Haug sitzt nun in einem Besprechungsraum des Jobcenters Nürnberg-Stadt, sehr rote Haare, sehr viele Furchen im Gesicht für 44.

Sie redet über ihr Arbeitsleben.

Zuletzt waren es nur noch Ein-Euro-Jobs. Blieb sie weg, weil den Achtjährigen das Asthma schüttelte, drohte das Amt Kürzungen an. Frau Haug fühlte sich als billige Hilfskraft, in sinnlosen Tätigkeiten auf Zeit, die nirgends hinführten. Sie war aus dem Berufsleben herausgefallen wie viele der eine Million Deutschen, die ein Jahr und länger arbeitslos sind.

Sie hatte ja mal eine richtige Arbeit, in der sie gut verdiente, auf die sie stolz war. Sie leitete die Filiale eines Discounters. Das war vor siebzehn Jahren.

Dann kamen noch drei Kinder, dann fehlte Betreuung, Herr Haug war keine Hilfe. Irgendwann war sie zu lange raus, als dass eine Firma sie einfach anstellte. Sie kam im Versandhaus Quelle unter, weil wenige Lust auf Nachtschicht haben, aber die Oma mochte nach zwei Tagen nicht mehr bei den Enkeln übernachten. Sie wollte einen Beruf lernen, aber das Jobcenter mochte nicht zahlen, weil es wegen ihrer Unzuverlässigkeit nicht an Erfolg glaubte.

Der Gang zur Tafel mit kostenlosen Lebensmitteln war den Kindern peinlich

Blieben die Ein-Euro-Jobs, die bei ihr nur ein Gefühl hinterließen: "Du denkst, da kann ich gleich Hartz-IV-Empfängerin bleiben." Darauf lief es hinaus: Hartz IV, lebenslang. Teuer für die Gesellschaft, frustrierend für sie. Ein Schicksal, das sie mit Millionen Deutschen teilt - und vielleicht an ihre Kinder weitergibt. Altgediente Nürnberger Jobberater haben Klienten, deren Eltern sie schon erfolglos betreuten.

Sie wollte ja raus aus diesem Leben, in dem ihre Familie meist geschenkte Klamotten trug. "Wenn einer Tochter Mitte des Monats das eine paar Schuhe kaputtging, war kein Geld mehr für neue da", sagt sie. "Allmächd!", Allmächtiger, dieser fränkische Schicksalsruf entfährt ihr häufig. Der Gang zur Tafel mit kostenlosen Lebensmitteln war den Kindern, acht bis 20 Jahre, unendlich peinlich. Sie nahmen extra Aldi-Tüten zur Essensausgabe, damit die Nachbarn später nicht sahen, wie arm sie sind. "Allmächd!" Ella Haug wollte da raus, aber sie wusste nicht mehr wie.

2014 kam sie in ein Modellprojekt des Landes Bayern und der Stadt Nürnberg. 2014 war ihr letzter echter Job eineinhalb Dekaden her. Sozialprojekte gibt es unzählige, dieses hier, "Perspektiven für Familien", folgt einer neuen Logik: Bei Langzeitarbeitslosen besteht oft mehr als ein Hindernis für einen Job. Mangel an Qualifikation, geringe Deutschkenntnisse, häusliche Gewalt, Drogen, Resignation. In einen Job bringen lässt sich so jemand vielleicht nur durch intensives Kümmern, durch einen Ansatz, der mehrere Probleme auf einmal angeht - und die ganze Familie in den Blick nimmt.

Sanktionen brachten nichts, deswegen versuchen sie es in Nürnberg jetzt anders

Wie notwendig das im Fall Haug ist, sah das Doppelteam aus Jobberater und Sozialarbeiter bald. Sie hatten ihr eine geringfügige Stelle vermittelt, als Wiedereinstieg. Sie brach nach einer Weile ab, bei einer zweiten Stelle ebenso. Mal fiel der Sohn die Treppe hinunter, sagt sie, mal entwich zu Hause heißer Dampf aus dem Gasofen und ängstigte die Kinder. Ernsthafte Gründe womöglich, aber sie blieb einfach weg, ohne sich zu melden. Ging tagelang nicht ans Telefon. Sie konnte oder wollte nicht arbeiten und schämte sich gleichzeitig. Jetzt, zwei Jahre später im Besprechungsraum des Jobcenters, kann sie es zugeben.

Das deutsche Recht sieht in so einem Fall vor, dass der Berater Hartz IV kürzt. Ella Haug kennt das. Sanktionen brachten sie auch sonst nicht zurück in Arbeit. In Nürnberg versuchen sie es anders.

Es gibt im Doppelteam ja den Sozialarbeiter, und so ging Andreas Schäfer einfach abends bei Familie Haug vorbei. Er traf auf eine pubertierende Tochter, die oft ausrastet, auf zwei Geschwister auf der Förderschule, die viel Aufmerksamkeit brauchen. "Wenn sich Frau Haug auf ein Kind konzentrierte, brach woanders ein Brand aus", sagt der Sozialarbeiter. "Bei den drei kleineren Kindern hab ich was falsch gemacht, ich hab zu oft nachgegeben", sagt die Mutter. "Frau Haug war noch gar nicht bereit für einen Job", sagt der Sozialarbeiter.

Schäfer überzeugte die Mutter, der pubertierenden Tochter ein eigenes Zimmer zu geben. Sie zur Nachhilfe zu schicken. Ihr den ersehnten Hamster zu versprechen, aber nur bei Wohlverhalten über mehrere Monate. Als sich die Situation zu Hause stabilisierte, ermöglichten die Berater Ella Haug die Ausbildung, die ihr zuvor verweigert wurde. Sie lernte im Altenheim, Senioren zu betreuen, Gespräche, Sturztraining. Sie hielt durch. Das klappte nur, weil sie den Kindern nun Regeln vorgibt. "Ich muss konsequent sein", sagt sie.

Normale Jobberater verbessern ihre Bilanz mit den leichteren Fällen

Am 1. Januar stellte das Altenheim sie fest an, 1 400 Euro im Monat. Es ist ihr erster richtiger Job seit siebzehn Jahren.

40 Prozent

der deutschen Arbeitslosen suchen laut Organisation OECD schon länger als ein Jahr nach einer Stelle. Obwohl das Land eine Rekordbeschäftigung erlebt, steht die Bundesrepublik damit schlechter da als Frankreich oder Skandinavien.

Von den mehr als eine Million Langzeitarbeitslosen ist etwa jeder Fünfte schon mehr als vier Jahre ohne Beschäftigung. Der Boom in der größten Wirtschaftsmacht Europa geht an diesem Teil der Gesellschaft weitgehend vorbei.

Einer ganzen Reihe von Arbeitslosen kann selbst das Nürnberger Modell nicht helfen. Aber das schmälert nicht das Ergebnis: Jeder vierte Betroffene landet hier in normaler Arbeit, sonst sind es 17 Prozent. Rechnet man jene dazu, die eine Ausbildung beginnen oder eine geringfügige Stelle, steigt die Erfolgsquote auf 50 Prozent.

Im Nürnberger Projekt mit 600 Familien erleben sie oft Langzeitarbeitslose, die im normalen System durch den Rost fallen. Wie Ella Haug. Wie eine Kongolesin, die zehn Jahre ohne Stelle blieb. Die normalen Jobberater für schwer Vermittelbare betreuen doppelt so viele Klienten wie im Projekt und kümmerten sich wenig um die Frau. Sie verbessern ihre Bilanz, wenn sie sich auf leichtere Fälle konzentrieren. Beraterin Gudrun Frank, die mehr Zeit hat, entdeckte, dass es bei der Kongolesin an der Qualifikation hakte. Das Amt bot nichts an, sie selber traute sich nicht. Heute arbeitet sie als Pflegerin und blüht auf.

"Für jeden ausgegebenen Euro kommen mindestens vier wieder herein."

In einem anderen Fall hatte die Jobbehörde zuvor nur den Ehemann im Blick. Der stolze Betriebswirt schlug Angebote aus, als Busfahrer anzufangen und blieb arbeitslos. Das Projektteam widmete sich seiner Frau, die sich in traditioneller Rolle nur um die Kinder kümmerte. Sie ermöglichten ihr eine Ausbildung. Demnächst fängt sie eine reguläre Stelle an, verdient Geld. Und ihr Mann beginnt nachzudenken, ob seine Einstellung stimmt.

"Der Nürnberger Ansatz verhindert Hartz-IV-Karrieren und damit Ausgaben und Altersarmut", sagt die bayerische Sozialministerin Emilia Müller (CSU). "Eltern dienen ihren Kindern wieder als Vorbild." Müller hat die Ministerkollegen bewogen, eine bundesweite Ausdehnung ihres Modells zu fordern. Am Donnerstag stimmte der Sozialausschuss des Bundesrats mit 16:0 dafür.

Womöglich machen die Flüchtlinge das Modell nun attraktiv

Gießt die Bundesregierung das ins Gesetz, kann jedes Jobcenter nach Nürnberger Modell vorgehen. Finanziert von Kommunen und Bund. Doch darin liegt die Hürde. Es ist teurer, wenn Jobberater wie im Modell nur halb so viele Klienten haben. Emilia Müller hält dagegen: "Für jeden ausgegebenen Euro kommen mindestens vier Euro wieder herein". Sie rechnet wie in der Evaluation des Projekts Löhne der wieder Arbeitenden, Sozialbeiträge und Steuern zusammen. 4:1. Aber langfristig. Mehr Geld müssten Bund und Kommunen gleich ausgeben.

Womöglich wird das Modell nun dadurch attraktiv, dass es sich besonders für die größte Herausforderung eignet, vor der Deutschland gerade steht: Der Integration von Millionen Flüchtlingen.

Beraterin Gudrun Frank sitzt in der Wohnung der Familie Agho. Sie kennen sich gut, das zehnmonatige Baby spielt ohne Scheu mit ihr auf dem Boden. Vater Alex, 30, kam 2002 aus Nigeria. An ihm lässt sich ablesen, was bei der Integration schieflaufen kann. Eine Ausbildung wurde ihm nicht bewilligt. Als das Amt drei Jahre später etwas anbot, wollte er nicht mehr. Er verdiente okay als Küchenhelfer, unterstützte seine Mutter in Nigeria, bezahlte die Schule der Schwester. Eine Lehre hätte bedeutet, weniger Geld zu überweisen. An ihn richten sich Erwartungen von Zuhause, wie bei vielen Flüchtlingen.

"Diesen Job kann ich die nächsten 50 Jahre machen"

Agho kam zunächst ohne Ausbildung durchs Leben, bei BMW und UPS im Lager. 2013 quetscht ein Paket den Fuß, der Arzt sagt: Kein Lager mehr, wenn das noch mal passiert, kannst du nie mehr laufen. Ohne Ausbildung bleibt ihm nur putzen, wovon er die Familie nicht ernähren kann. "Ich dachte, was für ein Leben ist das?", sagt er. Als ihm ein Job winkt, für den er einen Führerschein braucht, will das Amt nicht zahlen. Er droht aus dem Berufsleben zu fallen wie andere Langzeitarbeitslose.

Mit dem Nürnberger Modell ändert sich das Leben der Familie. Beraterin Frank organisiert für seine Frau Deutschkurse, damit sie nicht wie viele Migrantinnen schon deshalb dem Arbeitsmarkt fernbleibt. Ihm finanziert sie den Führerschein. Alex Agho arbeitet seit Februar als Sicherheitsmann. "Diesen Job", sagt er, "kann ich die nächsten 50 Jahre machen."

*Name von der Redaktion geändert.

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