Landwirtschaft:Vom Aldi-Kind zur Ökobäuerin

Ohne eigenes Geld und Land bauen Anja und Janusz Hradetzky in der Uckermark einen Bio-Milch-Betrieb auf. Sie stehen für eine neue Generation von Landwirten, die gerade die Ställe erobert.

Von Hans von der Hagen, Stolzenhagen

Anja Hradetzky steht Samstag früh um kurz nach sechs mitten auf der Autobahn und ruft: "Kommt, kommt!" Nichts rührt sich. Nochmals: "Na, kommt!" Erst jetzt heben sich die ersten Köpfe, um zu klären, was denn Hradetzky auf der Autobahn macht. Autobahn, nun ja. So nennt es zumindest Hradetzky. Genau genommen handelt es sich um einen schmalen Pfad quer über eine Weide, auf der sich etwa fünfzehn Kühe befinden. Gemächlich sammeln sie sich entlang dieses Weges und trotten dann erstaunlich langsam zum Melkstand, der mitten auf der Wiese steht. Wahrscheinlich käme niemand außer Hradetzky auf die Idee, diesen Pfad Kuhautobahn zu nennen. Andererseits passt der Begriff hervorragend zu Hradetzky, denn sie erledigt jeden Schritt, jeden Handgriff und jedes Wort in einem enormen Tempo. Für den Satz: "Die kommen eigentlich nie, das ist ein bisschen doof bei denen", braucht sie denn auch kaum mehr als eine Zehntelsekunde. Es ist zu vermuten, dass sie immer so schnell spricht, auch wenn sie sagt, dass dieser Tag ein sehr aufregender sein werde.

Als Erste nimmt Kuh Penelope die Grasauffahrt zur Autobahn, und irgendwie gelingt es Hradetzky, ihre Eile mit dem entspannten Gemüt der Kühe zu synchronisieren. Vermutlich, weil sie nebenher gleich noch "ein bisschen Rassenkunde" betreiben kann: Die Herde setzt sich aus Rindern alter Rassen zusammen. Vor allem ist da das Allgäuer Braunvieh, daneben Angler Rotvieh, alte Zuchtrichtung, das "früher die deutsche Butterkuh war, weil sie so viel Sahne hatte". Oder das Schwarzbunte Niederungsrind, "Vorgänger von den Hochleistungskühen, den Holstein-Rindern, aber die setzen halt noch Fleisch an"; und das Tiroler Grauvieh, "das wir eigentlich total gerne mögen, aber die sind hier voll selten und zu teuer". Ihre Sprache hat so gar nichts von dem typischen Slang der Landwirte, sondern sie zeigt, dass hier gerade eine neue Generation die Ställe erobert.

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Die Herde wächst: 50000 Euro haben die Hradetzkys gesammelt, um ihre Rinder erwerben zu können. Inzwischen vermehren sie sich von selbst.

(Foto: Hans von der Hagen)

Derweil sind Penelope und ihre Kolleginnen an den Melkstand getrottet, bekommen Mineralfutter und Haferschrot und lassen sich dafür im Gegenzug die Milch abnehmen. Die Melkmaschine funktioniert nur, weil Hradetzky zuvor das Stromaggregat angeworfen hat, das an einen alten roten Traktor gekoppelt ist. Insgesamt melkt sie an diesem Morgen 22 Kühe. Im Schnitt gibt jede Kuh dabei sechs bis zehn Liter, und so wuchtet Hradetzky mehrfach 25 Kilogramm schwere Milchbehälter über die Wiese hin zu einem mächtigen Tank, der auf das Heck eines alten Mitsubishi Pick-ups geschnallt wurde.

Würde man die Szene aus einiger Entfernung betrachten - nichts würde einem ungewohnt vorkommen. Da steht eine Frau auf der Weide bei Angermünde in der Uckermark und melkt. Tatsächlich aber ist nichts an dem Bild normal. Das fängt schon damit an, dass die Kühe über Nacht draußen waren und nur deswegen in aller Herrgottsfrühe auf der Weide stehen.

Sofern das Vieh überhaupt noch nach draußen darf, muss es nachts in den Stall. Nächster Punkt: Es hat Hörner. Gewöhnlich werden die in den Milchbetrieben entfernt, oder es werden Tiere gehalten, die gleich gar keine mehr bekommen. Und weiter: Die Kälber stehen zusammen mit einer Kuh in einem Extragehege und dürfen an ihr trinken. Normalerweise werden die Kälber in kleine Boxen, "Iglus", abgesondert und bekommen ihre Milch aus Eimern mit Gummisaugern. Außerdem darf auch der Bulle mit auf die Weide und das machen, was er am liebsten macht: Sex. Gewöhnlich bleiben die Bullen fast immer im Stall.

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Anja Hradetzky bei der Arbeit: Früher hatte sie nichts mit Landwirtschaft zu tun. Heute ist sie überzeugte Bäuerin.

(Foto: Hans von der Hagen)

Das Ungewöhnlichste aber ist, das Anja Hradetzky, 29, dort steht. Sie baut gemeinsam mit ihrem Mann Janusz Hradetzky, 28, einen Milchviehbetrieb auf, ohne auch nur einen einzigen Quadratmeter Land zu besitzen. Geld hat sie auch nicht.

Und das alles in Zeiten, in denen Molkereien für einen Liter Milch teils weniger als 20 Cent zahlen. Ähnlich tief lag der Preis für einen Liter kurz mal in der Finanzkrise - und Ende der Siebzigerjahre. Schon vor dem jüngsten Einbruch des Milchpreises waren die Einkommen der Landwirte zurückgegangen. Ein kleiner Familienbetrieb kam bei konventioneller Milchproduktion zuletzt auf ein Bruttoeinkommen von im Schnitt knapp 2380 Euro pro Arbeitskraft. Das waren bereits 20 Prozent weniger als im Vorjahr. 2015/16 könnte es angesichts des sinkenden Milchpreises erneut in der gleichen Größenordnung nach unten gehen. Und: Von dem Geld müssen auch noch Alters- und Krankenversicherung gezahlt und mögliche Neuinvestitionen in den Betrieb finanziert werden.

Angesichts solcher Zahlen drängt sich die Frage auf: Sind die Hradetzkys übermütig?

"Immer Toastbrot und Limonade"

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Der Melkstand mitten auf der Wiese, der Milchtank auf dem Pick-up: Da das Vieh rund um die Uhr draußen ist, müssen ihm die Landwirte entgegenkommen.

(Foto: Hans von der Hagen)

Sicher: In der Landwirtschaft lässt sich durchaus noch ein Auskommen verdienen. Die einen schaffen es durch Massenproduktion. Die anderen mit der Erzeugung erneuerbarer Energien. Und die Dritten durch ökologischen Landbau. Gerade im Biobereich sind die Einkommen in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen und liegen derzeit deutlich höher als im konventionellen Bereich. Doch all das funktioniert nur, wenn bezahlbares Land vorhanden ist, das gekauft oder gepachtet werden kann.

Die Hradetzkys aber haben sich für den ökologischen Landbau entschieden, ohne Land zu besitzen. Darum sind sie nicht nur ein Beispiel dafür, wie man trotz Milchkrise in die Landwirtschaft einsteigen kann, die Hradetzkys zeigen auch, wie man buchstäblich aus dem Nichts heraus etwas aufbaut.

Aufgewachsen sei sie als "Aldi-Kind", sagt Anja Hradetzky. "Immer Toastbrot und Limonade. Meine Eltern hatten nie einen Bezug zur Landwirtschaft. Bis heute kaufen die bei Aldi ein. Zeitweise hatte ich eine krasse Phase und sie angemault, was für eine Scheiße die da fressen, aber damit habe ich jetzt aufgehört." Sie sagt auch: "Ich bin lieber mit Tieren als mit Menschen zusammen." Und so entschloss sie sich zu einem Freiwilligen Ökologischen Jahr. In der Zeit beeindruckte sie ein Bauer sehr: "Ich habe das immer noch vor Augen, wie er da zwischen den Tieren war. Einfach so. Ganz ruhig, als hätte er mit ihnen eine tiefe Verbindung", sagt Hradetzky.

Sie studiert ökologischen Landbau, arbeitet auf Farmen in Kanada, will Fleischrinder züchten. Kommt zurück - und zieht mit Janusz zwei Jahre durch Europa: Arbeitet mal mit Menschen mit Behinderungen auf Höfen, mal auf einer Alm mit Ziegen. Janusz Hradetzky lernt das Käsen, Anja testet das Melken. Probiert es mit 60 Kühen und mit 15. Irgendwann wissen beide: Lieber melken als züchten, lieber weniger Kühe als viele.

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Zum ersten Mal veranstaltet Anja Hradetzky einen Jungbauern-Markt auf ihrem Hof.

(Foto: Hans von der Hagen)

Sie erstellen ein Konzept, rechnen alles durch: Mindestens 70 Cent müssten sie für einen Liter Milch bekommen, um davon leben zu können.

Kann das funktionieren? Einen zerfallenen Stall können sie in dem kleinen Ort Stolzenhagen günstig mieten, doch entscheidend ist das Land. Nach den gewaltigen Preiszuwächsen in den vergangenen zehn Jahren können sie höchstens etwas pachten. Kaufen? Unmöglich. Sie haben Glück: Der Verein der Freunde des deutsch-polnischen Europa-Nationalparks Unteres Odertal bietet ihnen Flächen an. Für die vergleichsweise günstige Pacht müssen sie allerdings viele Auflagen einhalten.

Dann die Rinder - 50 000 Euro werden die kosten. Der Bank ist das ohne Sicherheiten zu heikel, die Hradetzkys leben noch von Hartz IV. Darum finanzieren sie die Tiere mithilfe von Genussscheinen. Es sind keine Genussscheine im Sinne des Wertpapierrechts, sondern die Zeichner kaufen ein Stück Kuh und bekommen dafür 2,5 Prozent Zinsen in Sachwerten. Obwohl die Hradetzkys zu dem Zeitpunkt nichts vorweisen können außer sich selbst, werden die Anteile gekauft. "Innerhalb von einem Monat war das ganze Geld da, das schafft keine Bank", sagt Anja Hradetzky. 70 Leute kaufen 100 Anteile zu je 500 Euro. Mit dem Geld zieht Janusz Hradetzky durch Deutschland und kauft Bauern 28 Kühe und zwei Bullen ab.

Mit dem Kauf der Herde ist die erste Etappe geschafft. Nun sind sie ein Jahr dabei und bekommen derzeit für ihre Milch 46 Cent: 40 Cent, weil sie Biomilch produzieren, weitere fünf Cent, weil es zugleich Heumilch ist, und einen weiteren Cent, weil die Milch nach dem Biosiegel Demeter zertifiziert ist. Noch im Mai waren es mehr als 50 Cent, doch der niedrige Preis für konventionelle Milch macht es schwierig, die Preise für Biomilch weiter stabil zu halten.

Geschockt waren die Hradetzkys deswegen nicht, weil sie ohnehin den Aufbau einer Käserei planen. Käse bringt mehr Geld als Milch, und nur er wird es ermöglichen, 70 Cent je Liter zu erwirtschaften. Der Käse erweitert auch den Kundenkreis. Ihn könnten sie in das eine Autostunde entfernte Berlin bringen. Die Rohmilch hingegen dürfen sie nur ab Tank verkaufen, sprich: direkt beim Stall. So sind die Vorschriften. Dass sie aber in Berlin genügend Abnehmer finden werden, bezweifeln sie nicht. Janusz Hradetzky hatte schon mal probeweise einen Käse gemacht und im Ort verkauft. Das ist nicht erlaubt, und so hatten sie kurz darauf die Lebensmittelüberwachung im Haus. Doch sie wissen nun, dass ihr Käse gut ankommt.

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Janusz Hradetzky bringt ein neugeborenes Kälbchen auf die Weide. Es ist ein Bulle, wie die meisten Kälber, die bisher auf dem Hof geboren wurden.

(Foto: Hans von der Hagen)

Anja Hradetzky ist an diesem Samstag mittlerweile mit ihrem Mitsubishi von der Weide zum Stall gefahren. Dort richtet sie schnell noch einen Raum für das Ereignis her, dessentwegen sie morgens so aufgeregt war: Zwischen zehn und zwölf Uhr soll dort erstmals der Jungbauern-Markt stattfinden. Milch und Fleisch will sie dort verkaufen. Eier kommen von einem weiteren Jungbauern, der wie die Hradetzkys Mitglied in einem Existenzgründer-Netzwerk ist. Andere bieten Honig und Gemüse an. Alle hatten Werbung, viel Werbung gemacht und hoffen, dass der Markt wahrgenommen wird.

Und tatsächlich: Ab zehn Uhr rollt ein Auto nach dem anderen heran, Familien aus dem Ort spazieren vorbei, und eine Nachbarin glaubt gar, dass dieser Markt ein Neuanfang für den Ort sein könne. Vielleicht könnte da mal ein kleines Geschäft draus werden? Zu DDR-Zeiten hatte sie im örtlichen Konsum gearbeitet. Nach der Wende wurde er geschlossen. Die folgenden 30 Jahre, erzählt sie, "ist hier nichts mehr passiert". Immerhin: Zuletzt seien einige Leute aus Berlin zugezogen. "Vielleicht werde ich irgendwann hier wieder ein Stück Butter in Stolzenhagen kaufen können."

Für die Hradetzkys ist der Arbeitssamstag danach noch lange nicht zu Ende. Janusz wird sich auf die Suche nach dem Kälbchen begeben, das seine Frau in der Früh nur von Ferne aus dem Auto sah und zu dem Satz veranlasste: "Oh, wie süß. Hoffentlich ist es ein Mädchen. Wir haben doch so viele Bullen bekommen." Später wird Janusz ihr erzählen, dass es erneut ein Bulle sei und ihn mit der Mutterkuh auf eine andere Weide bringen. Anja Hradetzky wird abends um sechs Uhr wieder 22 Kühe melken. Um 22.26 Uhr an diesem Samstag wird sie dann eine SMS mit den Worten schreiben: "Jetzt hab' ich Feierabend."

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