Landwirtschaft:Teufelskreis der Milch

Moderne Landwirtschaft

Zu viel Milch, zu wenig Geld - mehr Druck. Am traditionellen Agrarstandort Schleswig-Holstein kann man die Dimension des Problems beispielhaft sehen.

(Foto: dpa)

Seit die EU die Quote abgeschafft hat, sehen sich viele Bauern zur Massenproduktion gezwungen. Doch je mehr Milch in den Markt strömt, desto billiger wird sie.

Von Thomas Hahn, Löwenstedt

Im Märzen werfen die Bauern ihre Traktoren an. Die Gülle muss raus aufs Land, damit die Grasernte im Mai gelingen kann und das Vieh nicht zu spät auf die Weiden kommt. "Wir stehen in den Startlöchern", sagt Kirsten Wosnitza, die mit ihrem Mann Gerd Albertsen einen Hof mit 120 Milchkühen in Löwenstedt, Nordfriesland, betreibt. Der Winter war sehr feucht im Norden, deshalb sind die Bauern hier später dran als sonst. Wer zu tiefe Spuren ins nasse Erdreich fährt, bekommt sie den ganzen Sommer nicht mehr raus aus der Flur. Aber jetzt scheint die Sonne, bald kann es losgehen, was den Bauern natürlich gefällt.

Wenn nur die Sorgen nicht wären. Denn der Frühling bringt nicht nur die Wärme: Kredittilgungen werden fällig, Pacht- und Steuerzahlungen, der Einkauf von Dünger, Saatgut, Diesel, Arbeitskraft. "Jetzt kommen die Monate, in denen die Kosten auflaufen", sagt Kirsten Wosnitza, "und der Milchpreis sinkt." Auch in diesem Mai werden wieder viele Milchbauern ihren Betrieb aufgeben müssen.

Die Rechnung mit einem blühenden Export sind nicht aufgegangen

In Zeiten der Flüchtlingsdebatte gerät manch andere Krise aus dem Blick, und so fällt vielen gar nicht auf, dass es einen Berufsstand gibt im Land, der in einer historischen Misere steckt. Die tierhaltende Landwirtschaft hat es ohnehin nicht leicht. Es hat seinen Preis, Lebensmittel so zu produzieren, dass eine aufgeklärte Gesellschaft ihre Forderungen nach hohen Umweltstandards und Tierwohl erfüllt sieht. Aber es gibt auch das Verlangen nach möglichst billigen Produkten, und so entsteht eine Schieflage zwischen Notwendigkeit und Realität, die Europas Bauern seit Jahrzehnten zu schaffen macht. Ohne die mächtigen Subventionen der EU aus Brüssel hätten sie nicht überleben können.

Aber jetzt passen Aufwand und Ertrag für viele Landwirte überhaupt nicht mehr zusammen. Im April vergangenen Jahres hat die EU die Milchquote abgeschafft, mit der sie seit 1984 versucht hatte, die Preise stabil zu halten. Seitdem dürfen Europas Landwirte so viel Milch produzieren, wie sie wollen, um mehr profitieren zu können von den weltweiten Absatzmärkten. Aber die Rechnungen mit einem blühenden Export sind nicht aufgegangen.

Das Russland-Embargo kostet Abnehmer, die Nachfrage in China ist eingebrochen. Das gesteigerte EU-Angebot trifft auf Billiganbieter aus den USA, Neuseeland oder Südamerika. Es gibt zu viel Milch, der Preis verfällt. Die Bauern, die hierzulande für teures Geld ihre Betriebe erweitert haben, um im globalen Wettbewerb erfolgreich zu sein, stecken in der Schuldenfalle.

Im traditionellen Agrarstandort Schleswig-Holstein kann man die Dimension des Problems beispielhaft sehen. Hier blutet das Land. "Die Liquidität ist aufgebraucht, ungefähr 15 Prozent der Betriebe sind aktuell in Ihrem Bestand gefährdet", sagt Agrarminister Robert Habeck von den Grünen, "und es ist noch kein Ende in Sicht." Werner Schwarz, Präsident des Landesbauernverbandes, sagt: "Für viele Betriebe, die sich mit Tierhaltung befassen, ist die Situation desaströs." Und Kirsten Wosnitza, Landesteamleiterin im Bund Deutscher Milchviehhalter (BDM), erklärt: "Strukturwandel hat es immer gegeben. Aber was jetzt passiert, hat eine unheimliche Dynamik. Es ist die schlimmste Krise nach dem Zweiten Weltkrieg."

Haben auch Betriebe eine Zukunft, die weniger intensiv wirtschaften?

Die Milchviehhaltung steht an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte. Wird sie ein Exportgeschäft, in dem Massenproduktion das Gebot ist? Oder haben auch Betriebe eine Zukunft, die weniger intensiv wirtschaften?

Für viele Bauernfamilien hat so etwas wie das letzte Gefecht begonnen, und sie merken, dass sie nicht nur gegen kalte Marktwirtschaftler kämpfen. Sondern auch gegen ihresgleichen.

In der Küche von Gerd Albertsen und Kirsten Wosnitza ist eine lebhafte Runde zusammengekommen: lauter Bauern, die dem BDM nahestehen, mit Sorge auf die Entwicklung schauen, aber noch über die Runden kommen. Wer in den vergangenen Jahren mit Augenmaß in seinen Hof investiert hat, schläft jetzt ruhiger. Und wer nicht ruhig schläft, der spricht nicht gerne drüber. Bauern haben ihren Stolz.

"Viele Milcherzeuger melken, was das Zeug hält"

In der Küche kreisen also die Gedanken um einen grenzenlosen Freihandel, den der BDM ablehnt. Im konservativen Bauernverband sehen die BDM-Leute einen Gegenspieler, der auf Kosten vieler Bauern die Interessen von Handel und Industrie vertrete. "Alle, die davon profitieren, dass Nahrungsmittel billig sind, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, haben den Bauern viel über die Chancen erzählt. Aber das Thema Risiko hat man außen vor gelassen", sagt Kirsten Wosnitza. Der Bauernverband habe jahrelang die Segnungen des freien Marktes beworben. Jetzt habe er keine Idee gegen die Krise.

Preiskampf

15 Prozent der Betriebe in Schleswig-Holstein sind in ihrem Bestand gefährdet.

Aber was wäre eine Lösung? Ein europaweiter Systemwechsel, sagen die BDM-Bauern. Derzeit tragen die Milchbauern die Risiken des Marktes praktisch allein. Mit den Molkereien verbindet sie das Wechselspiel von Andienungs- und Abnahmepflicht, aber den Preis für ihre Milch bekommen die Bauern erst, wenn die Molkerei weiß, wie gut ihre Erlöse beim Weiterverkauf waren. Ohne Mengenbeschränkung zwingt dieses System die Bauern gerade in der Krise zur Massenproduktion.

"Viele Milcherzeuger melken, was das Zeug hält, um bei dem schlechten Preis zumindest zahlungsfähig zu bleiben", sagt Wosnitza. Aber je mehr Milch da ist, desto tiefer ist ihr Preis. "Es ist der totale Teufelskreis", sagt Bauer Christopher Lutze.

Der zuständige Bundesminister verficht die Export-Strategie

Für die BDM-Position gibt es durchaus politischen Rückhalt. Von Habeck zum Beispiel, auch von den anderen sechs grünen Agrarministern. Aber Landwirtschaft ist ein konservativ geprägtes Ressort. Der zuständige Bundesminister Christian Schmidt (CSU) verficht die Export-Strategie. Und auch der Bauernverband sieht keine Alternative zur Weltmarktorientierung. "Wenn Sie mir ein Rezept verraten, wie man mehr Einkommen generiert ohne mehr Tiere, ohne mehr Hektar - ich verkaufe das sofort", sagt Werner Schwarz, der auch Vizepräsident des Deutschen Bauernverbandes ist.

Schwarz ist ein schlanker Mensch, der eine weltläufige Bodenständigkeit ausstrahlt. Er empfängt auf seinem Hof in den Hügeln um Rethwisch, Landkreis Stormarn. Schwarz betreibt Ackerbau und Schweinezucht, auch er hat sich durch vorausschauendes Planen halbwegs krisenfest gehalten. Schwarz ist ein Mann mit Prinzipien. Die Hinwendung zum Freihandel findet er ausdrücklich gut.

"Das ist Konsens im Bauernverband mit allen Schwierigkeiten, die da dranhängen." Und dass er mit dem BDM, den er "Agrar-Opposition" nennt, einen Kompromiss findet, erscheint so wahrscheinlich wie eine Maisernte im Schnee. "Von wem muss denn Vernunft kommen?", fragt Schwarz. "Immer von uns?" Er findet den BDM in seiner Haltung genauso starr wie umgekehrt der BDM den Bauernverband.

Einen Systemwechsel hält Schwarz für unrealistisch. Über die Lieferbeziehungen zwischen Molkereien und Milcherzeugern könne man nachdenken. Er mag die bedrohten Milchbauern auch nicht verloren geben. Aber seine Botschaft lautet: Export und Massenproduktion sind alternativlos. "Wir haben gerade mal elf Monate die freie Marktwirtschaft in der Milcherzeugung. Es ist total schlecht gelaufen, aber wir können doch nicht gleich wieder zurück." Schwarz hofft, "dass wir bald wieder einigermaßen vernünftige Milchpreise bekommen".

Kein Tauwetter in Sicht

Habeck nennt die Haltung des Bauernverbands und der konservativen Politiker "eine ideologische Altlast". Für ihn ist klar, dass sie sich bewegen müssten für eine neue Landwirtschaft. Aber es rührt sich wenig. Im Herbst hat der EU-Agrarrat Liquiditätshilfen gewährt, die mittlerweile verbraucht sind. Und dass EU-Agrarkommissar Phil Hogan am Montag erklärt hat, er werde vorübergehende Absprachen zur freiwilligen Mengensteuerung möglich machen, ist auch kein echter Durchbruch.

"Nebelwerfen", sagt Kirsten Wosnitza, "wenn es kein verbindliches europäisches System für Krisenzeiten gibt." Bundesminister Schmidt hat gleich klargestellt: "Lösungen für die angespannte Situation können nur im Markt gefunden werden." Und Habeck seufzt: "Er sieht die Milchkrise immer noch nicht."

Es ist Frühling, aber für die Milchbauern kein Tauwetter in Sicht.

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