Landgericht Bonn:Martin, Nick und das Geheimnis der Karibik

CUM-EX-Prozess

Illustration: Shutterstock

Von kommender Woche an werden Cum-Ex-Aktiendeals in einem Strafprozess aufgearbeitet. Angeklagt sind zwei frühere Bankmanager, die den Fiskus betrogen haben sollen.

Von Klaus Ott und Jan Willmroth

Der Weg von Australien nach London, in die Karibik und schließlich auf die Anklagebank in Bonn begann für Nick D. mit einem Kulturschock. Gerade hatte das neue Jahrtausend begonnen, da wechselte D. aus Down Under zur Investmentbank Cantor Fitzgerald nach London, sein zweiter Job, noch war er selbst kein Händler. Aber er sah die Welt seiner Kollegen. Sie hätten Drogen genommen; sie hätten versucht, andere Banker betrunken zu machen, damit diese ihre Geschäfte ausplaudern, um sie ihnen wegzuschnappen. Wenn jemand seinen ersten Deal abgeschlossen hatte, habe er durch den Handelssaal gehen müssen, während die Kollegen irgendwelche Dinge nach ihm geworfen hätten. Filmreif, abschreckend, aber auch klischeehafter Teil des Umfelds, in dem er sich später selbst wiederfand.

Wie diese Welt für ihn ausgesehen hat, mit wem er Geschäfte machte und wie ihn frühere Kollegen später zu jener Firmengruppe namens Ballance lockten, die so genial wie kaum eine andere den deutschen Staat um Geld gebracht haben soll: All das hat D. den deutschen Strafverfolgern erzählt. Seine Aussagen sind wichtige Puzzlestücke, mit denen die Staatsanwaltschaft Köln während der vergangenen Jahre ein immer schärferes Bild zusammengesetzt hat von Aktiengeschäften, die nur einen Zweck gehabt haben sollen: in die Staatskasse zu greifen. Teilweise geschah das über Firmen mit Sitz in der Karibik, wo sich die Akteure solcher Aktiendeals auf der sicheren Seite fühlten.

Die Angeklagten und weitere Kronzeugen hoffen, glimpflich davon zu kommen

D. und sein von der Staatsanwaltschaft Köln mit angeklagter Ex-Kollege Martin S. sind die ersten von wahrscheinlich mehreren Dutzend Bankern, Händlern und anderen Finanzmarktprofis, die sich wegen des Cum-Ex-Skandals vor Gericht gegen den Vorwurf der bandenmäßigen Steuerhinterziehung werden verteidigen müssen. Sie wohnen in Dublin und Gibraltar und stellen sich dem Verfahren. Wenn die beiden in der kommenden Woche am Landgericht in Bonn erscheinen, wird sie niemand erkennen. Ihre Gesichter sollen auf Anweisung des Gerichts in den Medien verpixelt, also unkenntlich gemacht werden. Aber ihre Geschichten werden sich weit über Deutschland hinaus verbreiten. Erstmals kommen in einem Strafprozess in Deutschland Geschäfte zur Sprache, mit denen Händler wie D. und S. und viele andere über Jahre hinweg systematisch Europas Steuerzahler ausgenommen haben sollen.

Die Staatsanwaltschaft Köln hat etliche Kronzeugen, die in insgesamt weit mehr als 100 Vernehmungen im Detail erzählt haben, wie das alles gelaufen sei. Wer an welcher Stelle mitgemacht habe und wie man die Gewinne untereinander geteilt habe. D. und S. sind bei diesen Kronzeugen dabei, die alle darauf hoffen, halbwegs glimpflich davonzukommen. Sie alle haben sich die besten Strafanwälte der Republik genommen. Einer von ihnen hat anfangs gesagt, der Staat habe mit Gesetzeslücken den Griff in seine Kasse möglich gemacht. Das sei keine Straftat. Inzwischen spricht dieser Anwalt von organisierter Kriminalität. "Das ist nicht mehr zu verteidigen." Es bleibe nur noch die Flucht nach vorn.

Der gesamte Schaden für den Staat wird auf mehr als zehn Milliarden Euro geschätzt

Das gilt auch für D. und S. Spätestens von 2006 an sollen sich die beiden Angeklagten mit Kumpanen verbündet haben, um mittels komplexer Aktiendeals Kapitalertragsteuer zu kassieren, die zuvor keiner gezahlt hatte. Die Beute sollen sich die Beteiligten geteilt haben. Erst bei der Hypo-Vereinsbank, später bei der Ballance-Gruppe, einem Geflecht aus Firmen mit Sitz in London, Gibraltar und eines Tages auch in der Karibik. So steht es in der Anklage. In Bonn geht es um den Handel von Aktien mit (Cum) und ohne (Ex) Dividende, und um die Steuern auf diese Dividenden. Und es geht konkret um 33 Fälle der tatsächlichen und einen Fall der versuchten Steuerhinterziehung. Das Landgericht in Bonn ist zuständig, weil das Bundeszentralamt für Steuern dort sitzt. Ermittelter Schaden für den Fiskus in den Fällen, die nun vor Gericht kommen: 447,5 Millionen Euro. Insgesamt geht es bei Cum-Ex um Hunderte Fälle mit einem vermuteten Gesamtschaden von mehr als zehn Milliarden Euro.

Um die Jahrtausendwende hatten Finanzspezialisten einen Weg gefunden, Aktien rund um den Zahltag der Dividende so zu handeln, dass sie am Ende ganz ohne Risiko zweistellige Renditen einfahren konnten. Anders als Privatanleger können sich inländische Fondsgesellschaften, Banken und andere Firmen die deutsche Kapitalertragsteuer in Höhe von 25 Prozent erstatten lassen. Menschen wie S. und D. und ihre Mitstreiter brachten inländische Banken und Fonds mit Firmen im Ausland zusammen, besorgten sich reiche Investoren und hohe Kredite und handelten Aktienpakete im Wert von hohen Milliardenbeträgen, um am Ende Steuererstattungen zu kassieren. Die identifizierten Geschäfte seien nur scheinbar gewinnorientierter Handel mit Aktien gewesen, ist sich die Staatsanwaltschaft laut Anklage sicher. Der Profit entstehe, indem sich die Verdächtigen betrügerisch Steuergelder verschafften.

Martin S. hat den Ermittlern sehr geholfen, das alles zu verstehen. Am 14. Dezember 2017 saß er das erste Mal in Düsseldorf bei Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker und zwei Kriminalhauptkommissaren zum Verhör, angereist aus Dublin in der Absicht, ihnen die ganze Geschichte zu erzählen. Mehr als 30-mal hat er seither ausgesagt und zahlreiche Mitstreiter und Banken schwer belastet.

S. war ausgezeichneter Mathe-Schüler, hatte in Oxford Ingenieurwesen, Wirtschaftswissenschaft und Management studiert und zunächst als Ingenieur gearbeitet. In der Finanzbranche aber, sagte er, konnte er das Doppelte verdienen. Erste Station war die US-Investmentbank Merrill Lynch, in einem Team, das die komplexesten Strategien verfolgte, mit denen man als Händler in der Bank zu tun haben konnte. Dort lernte er Paul Mora kennen, einen gebürtigen Neuseeländer, der heute Europa meidet, weil ihn die Behörden in mehreren deutschen Bundesländern schwerster Steuervergehen verdächtigen*. Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt hat Mora angeklagt, Staatsanwälte in Köln und München ermitteln gegen ihn. Er bestreitet die Vorwürfe.

S. und Mora wechselten später gemeinsam zur Hypo-Vereinsbank, irgendwann stieß Nick D. dazu, und gemeinsam kümmerten sich die drei um die Cum-Ex-Geschäfte. S. entwarf Handelsstrukturen und handelte selbst, Teamchef Mora besorgte Kunden und baute Kontakte auf, D. war einer der Händler und stieg nach und nach tiefer ein. Das Rad begann sich zu drehen, im Jahr 2006 erst ein wenig, von 2007 an dann immer schneller. Aber warum Gewinne für die Bank einfahren, wenn man selbst viel mehr absahnen kann, ohne sich ständig mit der Steuer- und Rechtsabteilungen herumschlagen zu müssen?

Im Jahr 2008 machten sich Mora und S. selbständig, erst mit der Ballance-Gruppe und später unter anderem Namen; Eigenhandel, Handel für Kunden, Geschäfte mit der HVB und mit der Deutschen Bank, Geschäfte mit deutschen Landesbanken und der noblen Privatbank M. M. Warburg. Zwei Händler der Deutschen Bank schlossen sich der Firma an, 2009 kam auch D. dazu und drehte mit am großen Rad. Immer das Ziel vor Augen, möglichst tief in die Staatskasse zu greifen, sollen sie jedes Geschäft minutiös in Excel-Tabellen eingepflegt haben. Am Handelstisch bei der HVB und in Diensten von Ballance seien sie bereits diejenigen gewesen, die alles koordiniert hätten, heißt es in der Anklage.

Im Haus mit der feinen Adresse Ferdinandstraße 75 in Hamburg wären sie heute wohl froh, wenn sie sich nie mit Leuten wie S. und D. eingelassen hätten. Dort sitzt das Bankhaus M. M. Warburg, fast 225 Jahre alt. Vertreten durch seine Anwälte werden zwei Gesellschaften der Bankengruppe als Prozessbeteiligte in Bonn mit dabei sein: Womöglich fordert die Kammer Geld von Warburg zurück, dagegen darf sich das Bankhaus verteidigen. Das hanseatische Geldinstitut sieht sich zu Unrecht verfolgt und wird sich über seine Anwälte in Bonn sicher mit aller Vehemenz verteidigen.

Schon im ersten der 33 Fälle in der Anklage soll Warburg eine prominente Rolle gespielt haben. Die Privatbank aus der Hansestadt soll die Stelle gewesen sein, die sich am Ende eines Geschäfts mit den HVB-Händlern die Steuer erstatten ließ. Es folgten mehrere Geschäfte mit Ballance. Im schlimmsten Fall für Warburg könnte es am Ende des Prozesses zu einer Vermögensabschöpfung in Höhe von 166,5 Millionen Euro kommen. Was die Privatbank mit allen juristischen Mitteln verhindern will.

Auch drei andere Banken beziehungsweise Fonds sind als Nebenbeteiligte vor Gericht geladen. Sie alle stehen stellvertretend für große Teile der Finanzbranche, die systematisch in die Staatskasse gegriffen haben sollen. Hat die Staatsanwaltschaft Köln mit ihrer Anklage Erfolg, auch in einem möglichen Revisionsverfahren beim Bundesgerichtshof, dann sind mehrere Milliarden Euro fällig. Vor allem, aber nicht nur, von einigen namhaften Banken.

*Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, Behörden mehrerer Länder verdächtigten Paul Mora schwerster Steuervergehen. Gemeint war damit, dass die Behörden in mehreren deutschen Bundesländern diesen Verdacht hegen.

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