Süddeutsche Zeitung

Umweltschutz:Wie der Lachs zum Vegetarier wird

Ein deutscher Konzern, ein 8000-Seelen-Kaff in Nebraska und ein Zuchtbetrieb in Norwegen: Evonik will Lachse umerziehen und damit zur Rettung der Weltmeere beitragen.

Von Claus Hulverscheidt, Blair

Wer sich mit dem Auto auf den Weg von der Pazifikmetropole San Francisco in Richtung Atlantikküste bei Boston macht und auf der Hälfte der Strecke eine Pause einlegt, landet inmitten der Weiten Nebraskas, etwa beim Städtchen Blair. Kaum ein Ort in den USA ist weiter entfernt vom Ozean - und deshalb spricht erst einmal gar nichts dafür, dass ausgerechnet hier, in einem 8000-Seelen-Kaff, an einem revolutionären neuen Ernährungsprogramm für Lachse und der Rettung der Weltmeere gearbeitet wird. Doch genauso ist es - und dafür verantwortlich ist ausgerechnet eine deutsche Firma: der Essener Spezialchemiekonzern Evonik.

Fisch ist für den Menschen seit Urzeiten ein essenzielles Grundnahrungsmittel, für drei Milliarden Erdenbürger heute sogar das allerwichtigste. Allein seit 1970 hat sich die weltweite Nachfrage verdreifacht. Prinzipiell ist das eine gute Entwicklung, denn Fisch hat oft nicht nur die bessere Ökobilanz als Fleisch. Er ist auch der bedeutendste Lieferant der Omega-3-Fettsäuren EPA und DHA, die als unverzichtbar für den menschlichen Körper gelten: Sie stabilisieren das Immunsystem, sind gut für Herz, Hirn, Sehvermögen und sogar das psychische Wohlbefinden.

Das Problem ist: Während der Bedarf wächst und wächst, stagniert zugleich seit 30 Jahren die Menge an Fisch, die wild gefangen wird. Gut 30 Prozent der weltweiten Gründe gelten als überfischt, weitere 60 Prozent sind am Limit. Gut die Hälfte des jährlichen Fischkonsums von mehr als 180 Millionen Tonnen stammt deshalb mittlerweile aus Zuchtfarmen, das Gros davon in Norwegen, Chile und Australien.

Fisch gibt es also genug - nicht aber Fettsäuren. Speisefische nämlich bilden die Säuren nicht selbst, vielmehr nutzen sie die Nahrungskette: Sie ernähren sich von kleineren Artgenossen wie Sprotten, Anchovis und Wittlingen, die ihrerseits Plankton fressen, das von Mikroalgen lebt - der eigentlichen Omega-3-Quelle. Pro Jahr werden deshalb 16 Millionen Tonnen Kleinfische zu Fischmehl sowie -öl verarbeitet und an Zuchttiere verfüttert - ein Sechstel des gesamten weltweiten Wildfangs. Die Farmen lösen das Problem der Überfischung also nicht - sie vergrößern es noch.

Genau das wollen Evonik und der niederländische Partner DSM mit ihrem Gemeinschaftsunternehmen Veramaris ändern. Nach ihren Vorstellungen sollen sich die Zuchtlachse künftig statt von Sardinen und Anchovis von Algenöl ernähren, das Veramaris seit einigen Wochen industriell herstellt. Aus Fischen, die seit Jahrtausenden Fische fraßen, werden so Vegetarier.

Erst Millionen, dann Milliarden Algen

Aber warum Nebraska? Die Antwort findet, wer sich dem Arbeiter- und Bauernstaat von Süden aus mit dem Auto nähert. Kilometer um Kilometer geht es an Mais- und Sojaplantagen vorbei, manche Farmen sind von den eigenen Maisfeldern regelrecht umzingelt wie das Dornröschenschloss von der Dornenhecke. Über Monate hat die Sonne die einst mächtigen grünen Stängel in traurig grau-braune Gerippe verwandelt, längst haben die reifen, goldgelben Maiskolben damit begonnen, sich aus dem Blätterkokon zu schälen, in dem sie monatelang gefangen waren.

Kurz hinter dem Ortsausgang von Blair taucht zwischen den Hügeln plötzlich ein beige-graues Sammelsurium aus Industriehallen, Silos und Schornsteinen auf. An die hundert Sattelzüge haben sich an der Werkseinfahrt aufgereiht - zu viert nebeneinander, sonst wäre die Schlange zwei Kilometer lang. Jeder Lkw ist mit 25 Tonnen Mais beladen, dem Lebenselixier der sechs Firmen, die das Gelände nutzen: vom US-Futtermittelriesen Cargill über einen Ethanol- und einen Enzymhersteller bis zum Evonik-Konzern, der in Blair seit zwei Jahrzehnten die Aminosäure L-Lysin braut.

Für Veramaris war die Wahl des Standorts Blair nicht nur wegen des unerschöpflichen Maisvorrats logisch, sondern auch, weil Evonik in Nebraska bereits über Erfahrung mit Großanlagen für die Fermentierung verfügt. Deshalb hielten sich auch die Investitionen mit 200 Millionen Dollar im Rahmen. Anders als andere Firmen nutzt Veramaris nicht jene schlabbrigen Meeresalgen, die Strandurlaubern gern die Ferien vermiesen, für deren Produktion aber riesige, offene Becken benötigt werden. "Wir verwenden stattdessen Mikroalgen, die ohne Sonnenlicht auskommen", sagt Produktionschef Neil Leininger. "Aber sie benötigen Zucker - Maiszucker zum Beispiel."

Der Weg von der Mikroalge zum neuen Leibgericht der Zuchtlachse beginnt in einer Art Weindekanter. Die "Brühe", wie die Flüssigkeit in dem Fläschchen genannt wird, besteht vor allem aus Wasser, einem Algenstamm, Vitaminen und süßem Maissirup, der dem ähnelt, den man etwa auch in Cola und vielen Bonbons findet. "Schon der erste Schüttelflakon enthält Millionen Algen", sagt Paul Caldwell, Evonik-Chef in Blair, und deutet auf das schlammige Gebräu. "Bald werden es Milliarden sein."

Eine Tonne Algenöl soll 60 Tonnen Fisch ersetzen

Vom Flakon geht es in den ersten Fermentierer, ein zylinderförmiges Edelstahlgefäß mit den Ausmaßen eines größeren Bierfasses. Es zischt und dampft leise zwischen den Bottichen, die über Rohre und Schläuche mit weiteren Tanks verbunden sind. Von einem Kontrollraum aus steuern Techniker die Beimischung von Zutaten sowie Temperatur und Druck in den Fässern. Hat die Biomasse im Bottich ein gewisses Maß erreicht, wird die Flüssigkeit in den nächsten, deutlich größeren Fermentierer gepumpt, wo die Zucker-Fütterung fortgesetzt wird. Fünf-, sechsmal zieht die Brühe so über mehrere Wochen um, bis sie schließlich in einem von sechs gewaltigen, fünf Stockwerke hohen Endtanks landet.

Die eigentliche Ölgewinnung beginnt eine Halle weiter. Die Algenzellen werden aufgespalten, übrig bleibt ein goldbraunes, leicht zähflüssiges Öl, das an Ahornsirup erinnert und nach Sushi mit Sojasauce riecht. Per Schiff wird es an Aquafarmen geliefert, die es mit anderen Futtermitteln mischen und zu Pellets pressen lassen.

Eine Tonne des industriell gefertigten Algenöls ersetzt nach Evonik-Angaben 60 Tonnen an wild gefangenem Fisch. Schon bald will Veramaris etwa 20 000 Tonnen Öl pro Jahr herstellen und damit den Fang von 1,2 Millionen Tonnen Wildfisch überflüssig machen. Das ist eineinhalbmal so viel, wie jedes Jahr aus dem gesamten Mittelmeer geholt wird. Rund 15 Prozent dessen, was Lachsfarmen weltweit an Omega-3-Fettsäuren benötigen, wären so gedeckt. "Mittelfristig", sagt Leininger, "wollen wir mit unserem Öl auch im Shrimp- und im Futtermittelmarkt für Katzen und Hunde Fuß fassen." Evonik und DSM drücken aufs Tempo, denn auch andere Hersteller arbeiten an Verfahren, um Omega-3-Fettsäuren zu gewinnen, zum Beispiel aus genveränderten Landpflanzen.

Das US-Nachrichtenportal Biofuels Digest, das sich auf Informationen aus dem Bereich Umwelt spezialisiert hat, zumindest sieht Evonik und DSM auf dem richtigen Weg. Chefredakteur Jim Lane zog jüngst bereits einen äußerst gewagten Vergleich - zur Mondlandung: Für Veramaris, so schrieb er, sei die Gewinnung von Algenöl nur ein kleiner Schritt. "Aber es ist ein großer Schritt für die Fischheit."

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Quelle:
SZ vom 19.10.2019/vd
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