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Kursrekorde an den Börsen:Die Gefahr einer neuen Finanzkrise ist noch lange nicht vorbei

Es gibt zwar einige Gründe, weswegen man optimistisch sein kann. Aber die überbordende Euphorie an den Aktienmärkten ist trügerisch.

Kommentar von Jan Willmroth

Der Auftakt zur internationalen Finanzkrise, von der sich die Welt noch nicht vollständig erholt hat, jährt sich demnächst zum zehnten Mal. Wenige sahen kommen, was damals über Banken, Konzerne, Staaten und Menschen hereinbrach, und noch immer ist nicht umfassend erforscht, wie das Finanzsystem dem Zusammenbruch so nah kommen konnte. Dessen ungeachtet herrscht an den Börsen schon wieder eine bedenkenlose Euphorie.

Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard, gestorben im Jahr 1855, konnte nichts ahnen von einem globalen Kapitalmarkt, als er eines seiner berühmtesten Zitate prägte: Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, leben aber muss man es vorwärts. So machen es auch die Finanzmärkte, denn sie versuchen, die Zukunft im Heute zu zeigen. Aktien sind weltweit teuer geworden. Der deutsche Dax-Index stieg zuletzt auf den bisher höchsten Wert, in den USA bewegen sich die wichtigsten Indizes nah an ihren Rekorden, in zahlreichen EU-Staaten notierten Aktien nur zur Zeit der Internet-Blase um die Jahrtausendwende höher. Kaum war die erste Runde der Frankreich-Wahl vorüber und Emmanuel Macron weiter im Rennen, da kauften Investoren massenhaft europäische Aktien.

Man kann optimistisch sein. Aber die Krisengefahr ist nicht geringer geworden

Diese Euphorie ist trügerisch. Seit einiger Zeit äußern sich Marktbeobachter und Anleger mehr zu politischen Ereignissen denn zu wirtschaftlichen Daten. Sie versuchen ständig, politische Risiken in der Zukunft zu bemessen. Erst sprachen sie über die Gefahr einer Präsidentschaft Donald Trumps, später wurde die eingetretene Katastrophe zur Begründung für steigende Kurse. In Donald Trump gewann ein Nationalist, die Aktienpreise stiegen. In Macron könnte nun ein Weltbürger Präsident werden, die Aktienpreise steigen vorauseilend. Der Brexit bedroht die Stabilität der europäischen Finanzmärkte, die Marktteilnehmer zerreden es.

Die Börsen haben offensichtlich eine Phase erreicht, in der jedes politische Ereignis potenziell zur Erklärung für steigende Kurse umgedeutet wird. Das ist ungesund und riskant; man kann in diesen Tagen die bekannten Symptome später Phasen von Börsenzyklen beobachten. Ein Herdentrieb deutet sich an, gemäß der aus dem Englischen übersetzten Weisheit: Wenn du gegen die Euphoriker nichts ausrichten kannst, mach' mit.

Es ist zwar richtig, dass die zugrunde liegenden Daten optimistisch stimmen können. Die Weltwirtschaft wächst auf einem soliden Niveau, sämtliche Euro-Staaten stehen mit Wachstumsraten zwischen einem und 3,3 Prozent inzwischen recht ordentlich da. Die Niedrigzinsen sind gut für die Gewinne der Unternehmen. Trotz aller Furcht, der globale Freihandel sei bedroht, laufen die Geschäfte internationaler Konzerne hervorragend. Es wäre aber falsch, diese Momentaufnahmen in die Zukunft fortzuschreiben.

Denn die Unsicherheit bleibt hoch: Politische Krisen bis hin zu größeren Kriegen sind nicht unwahrscheinlicher geworden. Die weltweite Verschuldung von Staaten, Unternehmen und Privatpersonen ist wie die Börsen auf rekordhohem Niveau, angefeuert durch die lockere Geldpolitik der Zentralbanken. Eine steigende Verschuldung erhöht das Risiko systemischer Fehler. Finanzmarkt-Zyklen haben die unangenehme Eigenart, dass derartige System-Risiken übersehen werden, bis es zu spät ist - weil sie erst rückblickend berechenbar werden. Woraus sich die nächste Krise entwickeln wird, bleibt ungewiss. Um mit dieser Situation klug umzugehen, sind private Anleger gut beraten, äußerst misstrauisch zu sein. Im Krisenfall ist das Sparkonto auch ohne Zinsen Gold wert.

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Quelle:
SZ vom 29.04.2017
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