Süddeutsche Zeitung

Chat-GPT und Co.:"Das Internet durchsucht dich"

So wild war im Internet lange nichts: Künstliche Intelligenz berauscht die Techbranche. Unternehmer, Futuristen und Psychotherapeuten streiten über den richtigen Umgang mit ihr.

Von Bastian Brinkmann, Austin

Die Musik dudelt zu laut. Uri Levine steht auf, hier will er sich nicht unterhalten. Direkt um die Ecke steht ein Tisch hinter einer Glastür. Dort kann der bekannte Unternehmer in Ruhe erklären, was gerade so viele Start-ups und Konzerne falsch machen, wenn sie auf künstliche Intelligenz (KI) setzen. KI dominiert derzeit die Techbranche. Zumindest jenen Teil der Techbranche, der sich wie jedes Frühjahr in diesen Tagen zur Konferenz SXSW in Austin, Texas trifft. Alle sprechen über die Chatbots, in denen KI den Nutzern vorgaukelt, wie ein Mensch zu antworten. Und es ist viel mehr als ein Hype: KI wird die Techbranche verändern wie soziale Netzwerke und das Smartphone.

Kann zum Beispiel dank Chat-KI von nun an jedes Ein-Personen-Start-up einen 24/7-Kundendienst anbieten, weil der Sprachroboter jederzeit Fragen klären kann? Oder können nur die großen Techkonzerne die nötige KI-Rechenkraft finanzieren und noch mehr Macht im Internet an sich reißen? All das sind Fragen, die die Branche - und die Menschen hier in Austin - derzeit beschäftigen.

Wie sehr künstliche Intelligenz den Alltag beeinflussen kann, sieht man bei Levine. Wer mit Google Maps einen Stau umfährt, kann sich bei ihm bedanken. Er ist Mitgründer der Firma Waze, die von Google gekauft wurde. Waze hat eine KI-Navigation angeboten. Das genau so zu sagen, fände Levine aber Unfug. Diese technische Beschreibung sei den Nutzern doch völlig egal, sagt er am ruhigen Tisch hinter der Glastür. Was ihnen nicht egal sei, wäre folgendes Angebot: "Ich helfe dir, Stau zu vermeiden." Das löse ein echtes Problem, dafür laden sich Menschen eine neue App herunter.

Zu viele Firmen würden sich nicht anschauen, welche Probleme die Nutzer plagten. Sie würden sich in technische Lösungen verlieben. So passiere es gerade mit KI. Viele Gründer und Kapitalgeber sähen in der Technik einen Hammer, mit dem sie auf alle möglichen Nägel einschlagen wollen - egal, ob die Nägel überhaupt weggehämmert gehören oder nicht. "So ein Hype schafft nur Wert für die Start-up-Investoren, nicht für die Kunden." Erfolgreiche Start-ups müssten über Hammer und Nagel genau andersrum denken, fordert Levine. Sie müssten ein echtes Problem der Menschen identifizieren und wirklich herausfinden, was die Menschen daran stört und warum. Erst dann gehe es darum, welche technische Lösung in Frage kommt. Levine hat sein Mantra auch gerade als Buch auf Englisch herausgegeben ("Fall in Love with the Problem, Not the Solution").

Das KI-Rennen zwischen Klein und Groß entscheidet sich in den kommenden zwei, drei Jahren, sagt die einflussreiche Unternehmensberaterin und Futuristin Amy Webb. "Das geht jetzt richtig schnell, und wir sind nicht vorbereitet." Sie fürchtet, dass mehr und mehr künstliche Intelligenz eine Tendenz zum Monopol auslösen kann. Wenige Konzerne gewinnen - und die Konsumenten gehen leer aus.

Nicht mehr Menschen durchsuchen das Internet, "das Internet durchsucht dich"

Außerdem verändert der Datenhunger der künstlichen Intelligenz das Internet auf dramatische Weise, sagt Webb, deren Vortrag mit zu den bestbesuchten auf der Konferenz in Austin gehört. Bisher gehen die Menschen online, wenn sie etwas suchen: den Weg ins Café, neue Sneaker, die Nachrichten. Die um sich greifende KI drehe das jetzt um, so Webb. Denn diese Maschinen funktionieren umso besser, je mehr Informationen sie abgegriffen haben. Das Sammeln von Daten wird so lukrativ wie nie. Also durchsuchen nicht mehr die Menschen das Internet, sagt Webb, sondern andersrum: "Das Internet durchsucht dich."

Unternehmer Levine ist pessimistisch, dass etablierte Industriekonzerne es schaffen, große Sprünge mit KI zu machen. Denn um ein völlig neues Geschäftsmodell zu erschließen, müsste sich das Unternehmen hinstellen und sagen: "Was wir machen, ist falsch." Doch Konzerne seien dafür zu ängstlich, das verhindere Innovationen. Wer wirklich einen Durchbruch schaffen wolle, müsse sieben bis zehn Jahre investieren, sagt Levine. Seine Anti-Stau-Firma Waze wurde 2007 gegründet und 2013 für mehr als eine Milliarde Dollar von Google gekauft. Solche Zeiträume würden Konzerne tendenziell nicht durchhalten, sagt Levine. Denn in diesen Jahren sei das KI-Projekt noch nicht profitabel. Und dann komme ein schlechtes Geschäftsjahr dazwischen, weswegen der Vorstand leider, leider das KI-Projekt beerdigen müsse, prognostiziert Levine. Das war's dann mit der Innovation.

Mit KI könne man viel Spaß haben, sagt der Chef der Firma, die Chat-GPT erfunden hat

Greg Brockman ist einer, der Innovationen mithilfe einer KI angetrieben hat - so sehr, dass mittlerweile alle über sie reden. Gerade wirkt er aber angespannt. Beide Hände hat er zu Fäusten geballt und auf seinen Oberschenkeln abgelegt, was etwas krampfig aussieht. Der Chef von Open AI soll sich auf der Bühne erklären. Seine Firma hat Chat-GPT in die Welt gebracht. Kaum ein Produkt hat das Internet so schnell erobert wie dieser Chatbot, der auf Kommando Liebesgedichte schreibt, Lücken im Code für Computerprogramme füllt, Marketingideen als präsentationsfertige Bulletpoints liefert. Grandios, sagen die einen. Gefährlich, sagen die anderen. Denn nicht jede Idee des KI-Roboters ist klug, nicht jeder von Chat-GPT in die Welt getextete Satz gedeckt durch die Realität.

Brockman erklärt, wie so eine KI funktioniert. Zuerst liest sie unglaublich viel Text, und zwar alles Mögliche: auch schlechte Texte. Auch falsche Texte. "Das ist das Basismodell", sagt Brockman, es enthalte "jedes Vorurteil, jede Ideologie", die Menschen ausformuliert haben. Aber dann komme der zweite Schritt: Der Chatbot werde auf Linie gebracht. Menschen würden in die Berechnungen der KI eingreifen und dafür sorgen, dass der Chatbot mit höherer Wahrscheinlichkeit etwas Vernünftiges ausspuckt. Um zu zeigen, wie viel Handarbeit das für die Programmierer ist, hebt Brockmann beide Hände, während er das erläutert, und schiebt eine unsichtbare Masse nach vorne, als sei das Basismodell ein großer Batzen Teig, der anschließend gut durchgeknetet werde, bis die fertige KI serviert wird.

Mit KI könne man viel Spaß haben. Brockman nennt als Beispiel "Game of Thrones", die sehr beliebte Fernsehserie mit dem eher unbeliebten Ende. Wer sich über das Finale geärgert habe, könne sich mit KI ein neues Ende schreiben lassen, sagt er. Oder man lasse sich gleich selbst als Star in die Serie mit reinschreiben, die KI kann dann die neue Folge visualisieren. Zu möglichen Problemen mit KI äußert sich Brockman diplomatisch: Natürlich sei KI nicht perfekt. Auch neue Gesetze würde er begrüßen, die KI regulieren. Aber die Vorteile würden überwiegen. KI könne beispielsweise besser als Menschen die Content-Moderation in sozialen Netzwerken übernehmen. Diese Moderatoren entscheiden etwa, ob ein hochgeladenes Foto aus rechtlichen und ethischen Gründen nicht gezeigt werden darf. Oder ob ein Kommentar einfach nur völlig unverschämt ist oder schon zu löschende Hassrede darstellt.

Menschen dürften KI nicht überschätzen

Gehören so sensible Entscheidungen wirklich in Maschinenhand? Esther Perel warnt davor, KI zu überschätzen. Perel ist Psychotherapeutin und hat einen viel gehörten Podcast über Liebe, Sex und Partnerschaft.

Ein großer Makel der KI aus ihrer Sicht: Künstlicher Intelligenz fehle trotz vieler Daten oft der konkrete Kontext. Beispielsweise in Therapiegesprächen, wie Perel sie führt: Sie spielt auf der Bühne eine Audioaufnahme mit einem ukrainischen Vater ab. Seine Frau ist außer Landes geflohen, sie vermisst ihn. Und sie vermisst Komplimente von ihm. Er kann das nicht verstehen: In der Ukraine sterben Menschen - und seiner Frau fehlen die Worte "Du siehst gut aus heute"? Nur mit menschlicher Empathie und Kontext, so Perel, sei das unterliegende Problem dieses Paarstreits zu identifizieren: Der Mann unterdrücke wegen des grausamen Kriegs alle seine Gefühle. Leider auch die für seine Frau.

Menschen dürften KI nicht überschätzen, mahnt Perel. Zu heiraten, von der Familie wegzuziehen, ein Kind zu bekommen oder auch nicht, die Beziehung für Dritte zu öffnen, eine Beatmungsmaschine abschalten zu lassen - für solche großen Lebens- und Liebesentscheidungen gebe es keine technischen Lösungen.

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