Künstliche Intelligenz:Schweigegeld von Nokia

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Next-Word-Prediction funktioniert ähnlich wie eine Autovervollständigung: Der Algorithmus ahnt, welches Wort als nächstes gebraucht werden könnte. (Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

Ramin Assadollahi entwickelte die Wörtervorhersage fürs SMS-Tippen. Nun hat er eine Verstehmaschine gebaut.

Von Katharina Kutsche, München

Wenn es wieder heißt, Deutschland tue zu wenig, um künstliche Intelligenz zu erforschen, und falle hinter China und den USA zurück, wird Ramin Assadollahi leidenschaftlich: "Ich habe das Gejammer satt. Es ist nicht so traurig, wie man denkt." Der Unternehmer verweist auf Untersuchungen, nach denen der Forschungsstand zu künstlicher Intelligenz (KI) hierzulande gar nicht so schlecht ist - es fehle eher daran, die Ergebnisse der Wissenschaftler umzusetzen und zu kommerzialisieren.

Assadollahi muss es wissen. Der gebürtige Iraner, 44, studierte in den Neunzigerjahren in Stuttgart maschinelle Sprachverarbeitung und promovierte im Fach Klinische Psychologie. Im Jahr 2000 gründete er ExB Labs. Das Unternehmen hat seinen Sitz in München, eine Zweigstelle in Leipzig und beschäftigt mehr als 75 Mitarbeiter. Sein Produkt beschreibt Assadollahi als "Verstehmaschine", mit der er Sprache zu Wissen modelliere.

Sein Fachgebiet ist das Natural Language Processing (NLP), eine Methode, nach der gesprochene oder geschriebene Sprache mithilfe von Algorithmen und KI verarbeitet wird. Über seine bahnbrechendste Erfindung durfte der Computerlinguist lange nicht sprechen. Sie nannte sich Next-Word-Prediction und ist der Nachfolger des t9-Systems: Wenn Handynutzer eine SMS tippten, schlug ihnen die Software Assadollahis vor, welches Wort als nächstes kommen könnte. "Wir hatten die ältesten Patente", sagt der Unternehmer. 2010 hat er sie mit der Technologie an den damaligen Marktführer Nokia verkauft. Damit verpflichtete er sich zur Verschwiegenheit - für einen Seriengründer natürlich unangenehm, denn der Deal wäre für Gespräche mit Investoren ein wichtiges Pfund gewesen. Auch über den Verkaufspreis darf er nichts sagen, nur so viel: "Das Schmerzensgeld war angemessen."

Seit einigen Jahren arbeitet ExB Labs nun an einer KI-Werkbank namens Cognitive Workbench. Sie funktioniert web- oder cloudbasiert, kann aber etwa fürs autonome Fahren auch in Fahrzeuge integriert werden. Damit richtet sie sich an Unternehmenskunden beispielsweise aus der Mobilitätsbranche, dem Gesundheits- oder dem Versicherungswesen.

"Wir müssen mehr Expertise in die Leute bringen, die das Geld verteilen."

Assadollahi ist es wichtig zu betonen, dass es bei KI nicht nur darum gehe, Arbeitnehmer zu ersetzen, sondern auch darum, ihnen Zeit zu verschaffen. Überlastete Versicherungssachbearbeiter zum Beispiel könnten mithilfe der ExB-Technologie ihre Lesegeschwindigkeit erhöhen und so Zeit gewinnen. Schließlich werden zwischen Versicherten und Versicherungen pro Jahr mehrere hundert Millionen Briefe ausgetauscht - je Schadensfall sind das im Schnitt sechs Schreiben. Auch Wettbewerber wie Workfusion aus New York oder das Berliner Start-up Omnius argumentieren so. Workfusion arbeitet visuell, liest Schadensmeldungen aus und speist die Daten ins System der Versicherung ein. Omnius ist in der Lage, auch handschriftlich ausgefüllte Formulare auszuwerten. Die Werkbank von ExB dagegen erkennt nicht nur, dass oben links auf einem Briefumschlag etwas steht, und liest es aus, sondern versteht auch, dass es sich dabei um eine Adresse handelt.

Auch für Wissenschaftler ist die Software von Assadollahi interessant. 225 Paper liest ein Forscher im Schnitt pro Jahr. Doch rund 1,5 Millionen neue Paper erscheinen im gleichen Zeitraum. "Ich bin also systembedingt auch als Experte unterinformiert", sagt der Gründer. Je besser die bestehende Forschung vorab und automatisiert ausgewertet werden kann, desto genauer könne eine Hypothese formuliert werden. ExB Labs arbeitet in einem Projekt etwa mit niedergelassenen Ärzten zusammen, die gezielt recherchieren können, wie relevant neue Untersuchungen für ihr Fachgebiet sind.

Im vergangenen Jahr sammelte das Münchner Unternehmen 9,5 Millionen Euro ein; das Geld kam vor allem aus einem Fonds von Alstin Capital sowie aus dem Wachstumsfonds Bayern. Damit will ExB Labs sich breiter aufstellen. Das Team ist international, zurzeit kommen viele Mitarbeiter aus Südamerika. Am Standort Leipzig wird vor allem geforscht und entwickelt, mit dem Hauptbüro in München über Videochat kommuniziert.

Zudem behält Assadollahi im Blick, wie es im Thema KI vorangeht: die Strategie der Bundesregierung, die Sitzungen der Enquête-Kommission. Seine Einschätzung: "Wir müssen mehr Expertise in die Leute bringen, die das Geld verteilen." Der Verstehmaschinist empfiehlt, nicht mehr Geld in die Basisforschung zu stecken, sondern stattdessen Professuren zu fördern, die die Anwendung von KI in den klassischen Bereichen voranbringen. Das würde auch dem Mittelstand helfen, denn zeige man einem Maschinenbauer, wie maschinelles Lernen seine Produktion verbessern kann, werde so etwas eher angenommen. "Der wirtschaftliche Impact wird nicht durch Grundlagenforschung verändert", so Assadollahi. Mit anderen Worten: Welche Auswirkung KI auf den ökonomischen Erfolg eines Unternehmens hat, lässt sich nur in konkreten Beispielen klären, nicht durch allgemeine Erkenntnisse über die Möglichkeiten der Schlüsseltechnologie.

© SZ vom 02.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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