Süddeutsche Zeitung

Landwirtschaft:Warum das Küken-Urteil ein wichtiger Schritt für den Tierschutz ist

  • Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass das Töten von männlichen Küken nur noch übergangsweise erlaubt ist.
  • Ein Urteil, das manchen Tierschützern nicht entschieden genug klingen mag - aber ein wichtiger Schritt im Tierschutz ist: Erstmals wird dem Leben des Tieres ein "Eigenwert" zuerkannt.
  • Damit ist das Töten von Eintagsküken aus rein wirtschaftlichen Interessen kein "vernünftiger Grund" mehr im Sinne des Tierschutzgesetzes.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Natürlich hätten sich Tierschützer ein entschiedeneres Signal gewünscht. Ein machtvolles Wort des Bundesverwaltungsgerichts, das dem massenhaften Töten männlicher Küken in Brütereien von heute auf morgen ein Ende bereitet hätte: Das wäre das erhoffte starke Signal für den Tierschutz gewesen. Die obersten Verwaltungsrichter in Leipzig haben sich indes für einen pragmatischen Weg entschieden. Die Brütereien dürfen vorerst bei ihrer Praxis bleiben, die wirtschaftlich "nutzlosen" männlichen Küken sofort nach dem Schlüpfen in den Tod zu schicken - weil angeblich eine Lösung bereits in Sicht ist: Die Geschlechtsbestimmung im Ei soll so weit entwickelt sein, dass es womöglich bald eine Alternative zum millionenfachen Kükentod geben soll. Die beiden nordrhein-westfälischen Betriebe, die gegen die vom Land verfügte Beendigung des Tötens geklagt hatten, haben Zeit gewonnen.

Aus der Perspektive des Grundgesetzes ist diese Lösung sogar halbwegs nachvollziehbar. Denn immer wieder wird ja der politische Wille artikuliert, den Tierschutz in den Brütereien zu stärken. "Das Kükentöten ist ethisch nicht vertretbar und muss so schnell wie möglich beendet werden", sagte Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) noch vor der Urteilsverkündung der Rheinischen Post - wobei sie wohl absichtsvoll offen ließ, was genau "schnell" bedeutet.

Immerhin hat ihr Ministerium aber die Entwicklung von Methoden zur Geschlechtsbestimmung finanziell gefördert, und zumindest eine Methode soll - so jedenfalls wurde es dem Gericht in der Verhandlung versichert - angeblich kurz davor sein, im industriellen Maßstab anwendbar zu sein. Vor einem solchen Hintergrund wäre es rechtlich nicht so leicht vertretbar, den Brütereien einfach "das Licht auszuknipsen", wie die Senatsvorsitzende Renate Philipp Mitte Mai in der Verhandlung des Bundesverwaltungsgerichts angemerkt hatte. Denn auch Brüter haben Grundrechte.

Man produziert Küken, um die Hälfte von ihnen zu töten

Auf lange Sicht dürfte das Urteil sich aber als wichtiger Schritt zur Stärkung des Tierschutzes erweisen. Denn wer auf ein machtvolles Wort aus Leipzig zugunsten des Tierschutzes gehofft hatte, der ist keineswegs enttäuscht worden - nur muss er genau hinhören. Dieses Wort lautet "Eigenwert". Im Widerstreit zwischen den ökonomischen Interessen der Brutbetriebe und dem Tierschutz, der bereits seit 2002 auch im Grundgesetz steht, hatten die Richter zu entscheiden, was ein "vernünftiger Grund" für das Töten von Tieren ist. Und zwar in einer schon sehr bedrückenden Konstellation.

Die Tiere sind schon vor Jahrzehnten in "Legelinien" und "Mastlinien" auseinandergezüchtet worden, weil die moderne Produktion nun mal das Superlegehuhn will. Damit hat man sehenden Auges in Kauf genommen, dass die Hälfte der Küken keinen wirtschaftlichen Wert hat: Männliche Tiere legen keine Eier, und weil sie aus der Legelinie stammen, taugen sie auch nicht zur Fleischproduktion. "Ihre 'Nutzlosigkeit' steht von vornherein fest", sagte Philipp - sie sprach die Anführungszeichen mit. Anders ausgedrückt: Man produziert Küken, um die Hälfte von ihnen sofort ins Kohlendioxid zu schicken, wo sie ein angeblich sanfter Tod erwartet. Und dann sagte die Vorsitzende diesen Satz, der vielleicht noch Karriere machen wird: "Dem Leben der männlichen Küken aus Zuchtlinien wird damit jeder Eigenwert abgesprochen."

Es war im Tierschutz bisher durchaus umstritten, welcher Wert eigentlich dem Leben der Tiere zukommt. Denn zur Fleischproduktion gehört nun mal das Schlachten; das Leben von Schweinen, Rindern oder eben auch Hühnern wird in dieser Logik immer vorzeitig und gewaltsam beendet. Tatsächlich kennen in der EU überhaupt nur die Gesetze Deutschlands und Österreichs einen Schutz des Tierlebens. Anderswo geht es allein um die Vermeidung von Leid und Quälerei, die bisher auch im deutschen Tierschutzgesetz im Vordergrund stand. Das Leipziger Urteil erkennt dem Tierleben nun erstmals einen "Eigenwert" zu und nimmt es damit heraus aus einer rein betriebswirtschaftlichen Kalkulation, in der das Töten durch bloße Kostenersparnis legitimiert wird. Das Leben der Küken, soll das heißen, darf eben nicht nur auf eine Ziffer in der Kosten-Nutzen-Rechnung reduziert werden: Das bedeutet das kleine Wörtchen "Eigenwert".

Für die Brütereien tickt die Uhr

Für die Brütereien bedeutet dies, dass ab jetzt die Uhr tickt. Sollte es entgegen der ministeriellen Beteuerungen nicht gelingen, bis zum nächsten Jahr eine Alternative zum massenhaften Kükentod zu entwickeln, dann könnte das Land Nordrhein-Westfalen den Betrieben erneut eine Verfügung ins Haus schicken, mit der die Praxis erneut untersagt würde. Denn das Urteil stellt klar: Mehr als anderthalb Jahrzehnte nachdem der Tierschutz sogar ins Grundgesetz aufgenommen wurde, gibt es eigentlich keinen "vernünftigen Grund" mehr, die Eintagsküken in großer Zahl - bundesweit 45 Millionen jährlich - wegen bloßer wirtschaftlicher Unverwertbarkeit umzubringen. Das Gericht nimmt den Zustand zwar noch für eine Übergangsfrist hin, weil angeblich Land in Sicht ist. Aber das zentrale Argument der Brüter, dass schon der bloße ökonomische Vorteil ihnen einen "vernünftigen Grund" liefert - dieses Argument werden sie nicht wiederholen können.

Das Urteil aus Leipzig illustriert aber auch, wie langsam es mit dem Tierschutz vorangeht. Im Jahr 1987 hatte der Bundesgerichtshof entschieden, dass das Tierschutzgesetz "ohne jede Einschränkung auch für den Bereich der sogenannten Intensivhaltung von Nutztieren" gilt - und nicht nur für Hund und Pferd, die dem Menschen emotional näher sind. 1999 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass auch Hühner Platz brauchen, und zwar mehr als die Dreiviertel-DIN-A-4-Seite, die ihnen per Verordnung zugebilligt wurde. 2002 wurde Artikel 20a des Grundgesetzes um den Tierschutz erweitert. Die rechtlichen Grundlagen für einen wirkungsvollen Tierschutz wurden also nach und nach ausgebaut, aber die Praxis hinkt meilenweit hinterher. Ferkel werden nach wie vor ohne Betäubung kastriert und Muttersauen in enge Kästen eingepfercht - Grundgesetz hin, Verfassungsgericht her. Auch der konkrete Fall ist eine Kette von Vertröstungen. Schon Klöckners Vorgänger Christian Schmidt (CSU) wollte das Kükentöten bis 2017 beenden - das hat bisher nicht geklappt. Das Leipziger Urteil mit seiner deutlichen Aufwertung des Tierschutzes wird aber nur dann in die Rechtsgeschichte eingehen, wenn ihm auch Taten folgen. Wenn also diese Übergangsfrist fürs Kükentöten wirklich die letzte bleibt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4485178
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 14.06.2019/vwu
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.