Kritik an Dieter Nuhr:Wir alle sind der Shitstorm

Lesezeit: 6 Min.

  • Der Komiker Dieter Nuhr beklagt nach einem missratenen Griechenland-Witz einen "Shitstorm" gegen sich.
  • Das ist ein reichlich überstrapazierter Begriff, der zwischen angemessener Kritik und Pöbeleien nicht unterscheidet.
  • Eine große Rolle spielen in Netzdebatten Machtverhältnisse, Verantwortung - und wie wir damit umgehen.

Von Hannah Beitzer

Das ging ziemlich in die Hose für Dieter Nuhr. Der Komiker postete kurz nach dem Griechenland-Referendum einen Witz auf Twitter und Facebook: "Meine Familie hat demokratisch abgestimmt: Der Hauskredit wird nicht zurückgezahlt. Ein Sieg des Volkswillens!"

Und bekam hunderte Reaktionen wie diese: "Falls Herr Nuhr irgendwann mal unter den vielen Geldbündeln der Gagen seine Ideale wiederfindet und sich überlegt, warum er mal Kabarettist geworden ist, wird er sich hoffentlich für diesen unqualifizierten und dummen Witz auf Bildzeitungsebene schämen" oder: "Eine Volkswirtschaft ist keine Hauswirtschaft. Und wenn man von ersterem nicht so viel Ahnung hat, einfach mal die Klappe halten!"

Nun beklagte Nuhr in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen "Shitstorm" gegen sich. Er konstatiert einen zivilisatorischen Rückfall ins Mittelalter, nennt den Shitstorm "die Hexenverbrennung des 21. Jahrhunderts". Dutzende Beleidigungen und Drohungen habe er von seiner Seite gelöscht, daraufhin sei ihm Zensur vorgeworfen worden.

Der Beitrag ist einer von vielen, der sich in den vergangenen Wochen und Monaten mit dem Phänomen beschäftigt: Die Zeit zum Beispiel widmete dem Thema erst kürzlich mehrere Seiten. Der Begriff "Shitstorm" taucht beinahe täglich in Zeitungsartikeln und sozialen Medien auf - sei es, dass sich Menschen online über Kanzlerin Angela Merkels Verhalten gegenüber einem Flüchtlingsmädchen beschweren oder einem Unternehmen sexistische Werbung vorwerfen. Dabei ist Shitstorm nicht gleich Shitstorm - eine Annäherung in fünf Schritten.

1. Was ist Trollerei - und was ist angemessene Kritik?

Das Wichtigste zu Beginn: Menschen in sozialen Medien auf persönlicher Ebene anzugreifen oder gar zu bedrohen, ist falsch. Und jeder, ganz egal ob Journalistin, Berufspolitiker, Aktivistin oder Komiker hat das Recht, gegen "Trolle" - wie solche Störer im Netz heißen - vorzugehen: Twitter-Follower zu blockieren, Kommentare auf der eigenen Facebook-Seite oder dem eigenen Blog zu löschen, Anzeige zu erstatten. Das ist - der vielleicht wichtigste Punkt in Nuhrs Artikel - keine Zensur. Neben Kommentaren, die eindeutig daneben sind, enthalten viele Shitstorms aber auch nüchterne und sachliche Beiträge und eine ganze Menge Kommentare, die weder der einen noch der anderen Seite eindeutig zuzuordnen sind.

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Es ist natürlich wahr, dass im Netz nicht alle so differenziert diskutieren, wie sich das manch ein Journalist, Politiker, Prominenter wünscht. Das hat unter anderem damit zu tun, dass hier gesellschaftliche Gruppen aufeinander treffen, die sich normalerweise nicht begegnen, dass sich Menschen mit unterschiedlichem Bildungs- und Informationsstand einbringen. Und nicht nur das: Eine US-Studie hat unlängst ergeben, dass Menschen, denen ein Thema emotional besonders nahe geht, weniger in der Lage sind, dieses Thema klar zu beurteilen, Widersprüche und Feinheiten zu erkennen. Sie äußern sich in sozialen Netzwerken, die zu Übertreibungen und Zuspitzungen einladen, entsprechend.

Dazu kommt: Was der Einzelne als Beleidigung empfindet und was als angemessene Kritik, ist subjektiv. Wenn zum Beispiel Kritiker von Dieter Nuhr in verschiedenen Abwandlungen schreiben, dieser habe keine Ahnung und solle deswegen "einfach mal die Fresse halten", kann man das tatsächlich so interpretieren, als solle der Komiker "mundtot" gemacht werden, wie er selbst schreibt. Wenn man jedoch weiß, dass "Wenn man keine Ahnung hat: Einfach mal Fresse halten" ein Spruch aus Nuhrs Standard-Repertoire als Komiker ist, kann man die Äußerungen auch als ironische Anspielungen lesen.

Zuguterletzt können auch hunderte nüchterne Kommentare bedrohlich wirken auf denjenigen, an den sie gerichtet sind. Das hat schon allein mit ihrer puren Masse zu tun. Auch ein bekannter Mensch wie Dieter Nuhr, der ein Millionenpublikum erreicht, ist halt nur ein einzelner Mensch, dem hunderte Kritiker gegenüber stehen.

2. Es geht um Machtverhältnisse

Auf der anderen Seite scheinen sich viele derjenigen, die sich über Shitstorms beklagen, gar nicht bewusst zu sein, in welch einer privilegierten Situation sie eigentlich sind. "Diejenigen, die sich über den "rauen Ton" beschweren, sind oft genug auch jene, die sehr daran gewöhnt sind, dass ihre Stimme gehört wird (wie z.B. Journalist_innen) und selbst bei Widerspruch ihre Relevanz nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird", schreibt etwa Autorin Lucie in dem feministischen Blog Kleinerdrei.

Denjenigen, die die Reichweite nicht haben, bleibt wenig mehr als ihre Kritik über soziale Medien zu äußern. Wenn es ziemlich viele Menschen sind, die das tun, wird diese Kritik dann natürlich zu einem Instrument, Druck auszuüben auf diejenigen, die im Hierarchieverhältnis über dem stinknormalen Nutzer stehen - sei es, weil sie Redakteur einer renommierten Zeitung sind oder eben Komiker, denen ein Millionenpublikum zuhört. Ein Instrument übrigens, das durchaus der klassischen Demo vor dem Verlagsgebäude oder der Parteizentrale ähnelt. Der Shitstorm ist damit, wenn man so will, kein Beitrag zur Debatte im feuilletonistischen Sinn, sondern eine Form von politischem Aktivismus, ein Weg, bestehende Machtverhältnisse in Frage zu stellen.

Wenn Nuhr, der Komiker mit dem Millionenpublikum, davon spricht, dass "die pöbelnde Masse" heute wieder "selbstbewusst als Handelnder" auftritt, dann hat das einen bitteren Beigeschmack. Böswillig interpretiert: "Die da unten" sollen gefälligst unten bleiben, zu seinen Auftritten kommen, aber ihm "da oben" gefälligst nicht auf die Nerven gehen mit ihrer Kritik.

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:Trolle! Shitstorm! Machen wir es uns etwas zu einfach?

Hannah Beitzer fordert in ihrem Text "Wir alle sind der Shitstorm", den Begriff "Shitstorm" sein zu lassen. Es müsse mehr zwischen Kritik, Debatte, Beleidigungen, Drohungen und Hass differenziert werden. Sie verweist zudem auf die große Rolle von Machtverhältnissen in Netzdebatten.

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3. Du stehst nicht im Stau, Du bist der Stau

Fest steht auch, dass die, die Shitstorm-Dynamiken im Netz beklagen, damit eben jene Dynamiken befeuern. Jeder kritische Artikel, der zu einem Shitstorm-Thema erscheint, dreht es schließlich noch eine Windung weiter, provoziert Reaktionen und Gegen-Reaktionen, was dann wieder zu der Klage führt: völlig überdreht, diese Debatte! Und das Spiel beginnt von vorn. Wenn zum Beispiel ein FAZ-Blogger den Shitstorm gegen eine Journalistin beklagt - und gleichzeitig zum Shitstorm gegen eine ihrer Kritikerinnen bläst.

"Du stehst nicht im Stau, Du bist der Stau - Du schreibst nicht über die Empörungswelle, Du bist die Empörungswelle": Mit diesem Vergleich bringt der Netzexperte Sascha Lobo das Problem mit dem Shitstorm auf den Punkt. Klar, jeder ist ja der Ansicht, dass er das Recht hat, sich zu einem Thema zu äußern - und eine Instanz, die bestimmt, wer tatsächlich das Recht hat, gibt es nicht. Was auch gut so ist.

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4. Wen wir besonders schützen müssen

Es geht also häufig um Diskurshoheit und damit Macht - wer sie hat, wer nicht, wer sie verteidigen und wer sie angreifen will. Doch was ist eigentlich mit denen, die keine besondere Machtposition im Diskurs haben und trotzdem angegriffen werden? Das "trotzdem" führt an dieser Stelle in die Irre, legt der Artikel "The trolls are winning" von Ellen Pao nahe, ehemalige Chefin der Online-Plattform Reddit.

Pao hatte selbst mit massiven Bedrohungen zu kämpfen. Sie schreibt, besonders Frauen und Minderheiten seien von Beleidigungen und Hass betroffen, wenn sie sich öffentlich äußern. Also gerade Gruppen, die in der Gesellschaft nicht als einflussreich gelten - und die von ihren Angreifern zurück auf den vermeintlichen Platz verwiesen werden sollen.

Dafür gibt es viele Beispiele. Seien es nun Frauen, die sich in der männlich dominierten Welt der Computerspiele über Sexismus beschweren oder Homosexuelle, die für ihre Rechte eintreten. Vergewaltigungs- und Morddrohungen sind für feministische Aktivistinnen trauriger Alltag - und machen deutlich, dass der inflationäre und pauschale Gebrauch des Begriffs "Shitstorm" problematisch ist.

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"Ein Unternehmen auf seinen Social-Media-Kanälen für sexistische Werbung zu kritisieren ist etwas anderes, als einer Aktivistin zu sagen, dass sie nur mal wieder 'ordentlich durchfickt' gehört", sagt dazu die deutsche Feministin Anne Wizorek. Klar auch: Das Unternehmen hat ein Social-Media-Team, das dafür bezahlt wird, auch massenhafte Kritik zu managen. Der stinknormale Mensch hat das nicht und ist mit seinen Gefühlen und Ängsten allein.

5. Wir müssen verzeihen lernen - und für andere einstehen

Da ist es kein Wunder, dass einen manchmal beim Blick ins Netz die Verzweiflung packt. Ellen Pao betont in ihrem Artikel, dass ab einer gewissen Größe das Community-Management einer Plattform nicht mehr in der Lage sei, allein für gute Stimmung zu sorgen. Es sei dann auf die Nutzer angewiesen.

Als Reaktion auf die Angriffe hätten ihr viele liebevolle und freundliche Nachrichten geschrieben. Und viele hätten sich entschuldigt, nicht eingegriffen, weggesehen zu haben. "Im Kampf um das Internet gibt mir die Macht der Menschlichkeit, Hass zu überwinden, Hoffnung", schreibt sie abschließend, "Ich weiß, dass wir gewinnen können". Gerade die, die in der privilegierten Position sind, zu den Meinungsmachern zu gehören, haben eine besondere Verantwortung, die Dynamiken des Shitstorms zu brechen. Das bedeutet auch, sich wenn nötig solidarisch zu denen zu zeigen, deren Meinung man nicht teilt - gerade mit denen.

Wie das aussehen kann, hat zum Beispiel Welt-Redakteurin Ronja von Rönne gezeigt. Die Autorin war für einen anti-feministischen Text in den sozialen Medien harsch angegangen worden. Und wie das so ist: Der Kritiksturm schlug bald um und erwischte diejenigen, die von Rönne angegriffen hatten. Darunter war eine Journalistin der Tagesschau, deren Entlassung aufgeregte Rönne-Fans forderten.

"Ich lasse mich, ähnlich wie diese ARD-Frau, gerne zu schrägen Formulierungen hinreißen, einfach nur, weil mich die Pointe reizt", schrieb von Rönne darauf auf Facebook: "jetzt dazu aufzurufen, der Frau zu kündigen, ist etwas, bei dem ich massiv dagegen halte. Für Verzeihlichkeit! Für die Freiheit, dummes Zeug zu reden!"

Von Rönne hat recht. Menschen machen Fehler, reden und schreiben dummes Zeug, genauso, wie sie kluges Zeug reden und schreiben. Die Auseinandersetzung damit und die Kritik daran ist wichtig. Aber: Im Netz vergessen viele in der Diskussion die Regeln des Anstands. Diese Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen kann, ist schon alt, vieldiskutiert - wie Netzbewohner der ersten Stunde nicht müde werden zu betonen. Sie ist aber umso wichtiger, als mehr und mehr Menschen soziale Netzwerke nutzen, um ihre Meinung zu sagen.

Vielleicht wäre es ein erster Schritt, den lästigen Begriff "Shitstorm" endlich sein zu lassen und die Bestandteile bei ihrem Namen zu nennen: (scharfe) Kritik ist (scharfe) Kritik, Beleidigungen sind Beleidigungen, Drohungen sind Drohungen, Hass ist Hass und eine Debatte ist eine Debatte. Hoffentlich. Irgendwann einmal.

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