Wenn in früheren Jahrzehnten ein Schüler seine Klassenkameraden mit ständigen Belehrungen, dauerndem Eigenlob und Petzereien beim Lehrer triezte, dann wurde die Angelegenheit meist in einer dunklen Ecke des Pausenhofs gelöst - mit ein paar ordentlichen Backpfeifen. Solch archaische Methoden sind heute gottlob nicht mehr schicklich, den Typ arroganter Streber aber gibt es immer noch: Deutschland zum Beispiel.
Während anderswo auf dem Kontinent die Arbeitslosenzahlen steigen, die Bauern revoltieren und rechts- wie linksextreme Parteien ihr Süppchen kochen, präsentiert sich Deutschland seinen Nachbarn im Süden und Südwesten als politisch stabiles, vor Kraft strotzendes ökonomisches Vorbild: Wären nur alle Volkswirtschaften der Euro-Zone so wettbewerbsfähig wie die deutsche, so lautet die Analyse von Bundeskanzlerin Angela Merkel, dann gäbe es die vermaledeite Euro-Krise gar nicht.
Heiliger Indikator dieser Wettbewerbskraft ist für weite Teile der deutschen Politik die sogenannte Leistungsbilanz, die - vereinfacht gesagt - die Aus- und Einfuhren einer Volkswirtschaft gegenüberstellt. Dieser Saldo ist in der Bundesrepublik meist positiv, 2013 jedoch dürfte er die auch für hiesige Verhältnisse gewaltige Summe von etwa 200 Milliarden Euro erreichen. Das sind sagenhafte sieben Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung. "Deutschland erneut Exportweltmeister", wird der Boulevard dann wieder jubilieren, und viele Koalitionspolitiker werden eifrig darum buhlen, wenigstens ein klein wenig des Glanzes für sich abzubekommen.
Wirtschaftliche Ungleichgewichte als Hauptkrisenherde
Wer Kritik an dem gigantischen Exportüberschuss übt oder zumindest auf die damit verbundenen Probleme verweist, wird entsprechend als Neider, als Beschmutzer eines nationalen Heiligtums verunglimpft. Von den faulen Griechen, den reformunfähigen Franzosen, den prassenden Italienern ist dann die Rede, die den Deutschen deren Exporterfolge missgönnten und sie zwingen wollten, ihre Ausfuhren künstlich zu verringern.
Dabei haben auch die deutsche Kanzlerin und ihr Finanzminister Dutzende Gipfelerklärungen unterschrieben, in denen die massiven wirtschaftlichen "Ungleichgewichte" auf dem Globus als einer der Hauptkrisenherde für Wohlstand und Beschäftigung gebrandmarkt werden.
Was hat es mit diesen Ungleichgewichten auf sich? Ein Blick auf die ökonomische Weltkarte zeigt, dass sich zwei Gruppen gegenüberstehen: Länder wie Deutschland und China, die erheblich mehr ex- als importieren, und solche wie die USA und Spanien, bei denen es genau umgekehrt ist.
Das ist zunächst einmal völlig in Ordnung, denn der temporäre Güter- und Kapitaltausch gehört zu den zentralen Elementen einer Marktwirtschaft, wie Clemens Fuest, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, betont. "Es wäre deshalb ökonomischer Unsinn, wenn jetzt die Regel aufgestellt würde, dass die Leistungsbilanzen etwa aller Euro-Länder stets ausgeglichen sein müssen", sagt er.
Problematischer wird es, wenn wie in China Exporterfolge etwa durch Wechselkursmanipulationen erkauft werden, oder wenn Überschüsse und Defizite dauerhaft bestimmte Größenordnungen überschreiten.
Die EU etwa hat eine Obergrenze von sechs Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung festgelegt. Wer über längere Zeit Fehlbeträge auf diesem Niveau ansammelt, der bekommt irgendwann ein Schuldenproblem. Merkels Rezept für diese Länder lautet deshalb: niedrigere Arbeitskosten = steigende Wettbewerbskraft = höhere Exporte. Aus dem Außenhandelsdefizit wird so am Ende ein Überschuss.
Das Konzept hat allerdings gleich zwei Pferdefüße: Erstens funktioniert es schon rein mathematisch nicht, denn weltwirtschaftlich gesehen muss ja jedem Überschuss ein Defizit gegenüberstehen. Eine Welt, in der alle Staaten gleichzeitig mehr ex- als importieren, kann es also nicht geben. Im Gegenteil: Wenn Länder, die heute hohe Fehlbeträge im Außenhandel aufweisen, diese in Überschüsse verwandeln, dann geht das nur, wenn die heutigen Überschussländer ihren Saldo reduzieren.
Wer Waren exportiert, exportiert die Verschuldung mit
Und zweitens: Wer wie Deutschland in großem Stil Waren exportiert, exportiert die Verschuldung immer mit. Es ist in Teilen die gleiche Verschuldung, die Merkel an anderer Stelle mit milliardenschweren Rettungspaketen etwa für Griechenland und Spanien einzudämmen versucht. Was nämlich passiert, wenn ein spanischer Kunde beim Exportweltmeister einen Mercedes ordert, dafür bei seiner Bank einen Kredit aufnimmt, diesen nicht tilgen kann und damit das Geldhaus in Schieflage bringt? Es würde passieren, dass der deutsche und die übrigen EU-Steuerzahler die Bank stützen müssen - und so den Mercedes bezahlen.
Ginge es nach dem Lehrbuch, könnte es zu dem Karussellgeschäft gar nicht kommen. In der Theorie nämlich erhielte der spanische Mercedes-Fan den Kredit mangels Bonität gar nicht. "Spätestens seit der Euro-Krise wissen wir allerdings, dass die Finanzmärkte meist alles andere als effizient sind", sagt Sebastian Dullien von der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft.
Er sieht deshalb Überschussländer wie Deutschland in der Pflicht, die "zu wenig im Inland investieren oder zu viel sparen". Sie müssten zum Beispiel deutlich mehr für Straßen, Schienen und Bildungseinrichtungen ausgeben. "Das würde zum einen direkt die Importnachfrage nach Vorprodukten erhöhen, zum anderen Einkommen bei Bauarbeitern schaffen, die dann wiederum mehr Produkte aus dem Ausland kaufen oder sich einmal einen Urlaub auf Mallorca gönnen", so Dullien.
Ein Vorschlag, dem Ökonomenkollege Fuest umgehend widerspricht: Selbst wenn der Staat die gewaltige Summe von 25 Milliarden Euro für Investitionen in die Hand nähme, so rechnet er vor, entspräche dies gerade einmal einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts - oder einem Siebtel des Außenhandelsüberschusses.
Vielleicht würde es die Debatte schon entkrampfen, wenn sich Kritiker wie Verteidiger des deutschen Wirtschaftsmodells zunächst auf eine neue Terminologie einigen würden. Anstatt die Deutschen mit Kritik an ihrem "Exportüberschuss" in den Widerstand zu treiben, schrieb jüngst ein kluger Kommentator der Wochenzeitung Die Zeit, "sollten wir künftig einfach von einem Importdefizit sprechen".