Krisenbewältigung:Wende gut, alles gut

Alexis Tsipras ist ein Kunststück gelungen. Er wirbt für Reformen, die er eigentlich ablehnt. Für diesen Kurs hat er die Mehrheit der Griechen hinter sich.

Von Mike Szymanski

Die Frage löst Heiterkeit aus in Syriza-Kreisen: Ob Premier Alexis Tsipras nach dem nächtlichen Votum gestärkt sei, will man wissen. Ein Partei-Funktionär fragt zurück: Gestärkt? Man müsse da schon ein paar Dinge in die Überlegungen einbeziehen. Erstens: Die Kehrtwende. War es nicht Tsipras, der vor zwei Wochen das gesamte Volk auf die Straße trieb und für ein "stolzes Nein" beim Referendum warb, ein Nein zu weiteren Sparprogrammen? Derselbe Tsipras boxte in der Nacht zu Donnerstag mit 229 von 300 Stimmen ein neues Sparprogramm im Gegenzug für Milliardenhilfe aus Brüssel durchs griechische Parlament. Am Ende standen die Abgeordneten auf, um ihm zu applaudieren.

Damit wäre man beim zweiten wichtigen Punkt: Die Opposition unterstützte Tsipras in dieser Nacht. In seiner eigenen Fraktion verweigerten ihm 38 der 149 Syriza-Abgeordneten die Gefolgschaft. Tsipras stand ohne eigene Mehrheit da. Wenn so etwas in anderen Ländern passiert, dann ist eine Regierung für gewöhnlich erledigt. Aber Tsipras macht am nächsten Morgen schon wieder weiter mit der großen Rettungspolitik für sein Land.

"Gestärkt?", fragt also der Syriza-Funktionär amüsiert. So eine Kehrtwende müsse man erst einmal politisch überleben: Aus einem Nein zum Sparen wird ein überwältigendes Ja. Und Tsipras ist immer noch da. Sein Linksbündnis Syriza im Übrigen auch. Aus einem fast schon Besiegten wird ein Held. Wundersames also, so könnte man sagen, geschieht derzeit in der Athener Politik.

Am Ende einer hitzigen Nacht, in der draußen vor dem Parlament die Molotow-Cocktails der Enttäuschten brannten, sagt Tsipras: "Unsere Partei hat den Rückhalt in der Bevölkerung nicht verloren." Das wird sich zwar erst noch zeigen müssen, wenn die Bürger tatsächlich die Steuererhöhungen und Rentenkürzungen in ihrem Geldbeutel zu spüren bekommen. Schon an diesem Montag soll die Mehrwertsteuer steigen. Für den Moment aber ist Tsipras derjenige, der noch die beste unter lauter schlechten Optionen für Griechenland herausgeschlagen hat.

IMF Says Greece Needs Deeper Debt Relief Than Europe Considering

Die Sparauflagen haben die Proteste neu entfacht - ein paar jedenfalls. Ein Straßenverkäufer bei einer Demonstration in Athen.

(Foto: Matthew Lloyd/Bloomberg)

60 Prozent der Griechen sind mit ihrem Ministerpräsidenten zufrieden

Dem Premier ist in der öffentlichen Wahrnehmung ein Kunstgriff gelungen. Eine Mehrheit der Griechen macht nicht Tsipras und seine Regierung für den schlechten Deal verantwortlich, sondern sieht in den Kreditgebern die Staatsfeinde. Zu diesem Ergebnis kam ein Athener Umfrageinstitut. Im Parlament hat Tsipras nach Kräften diese Sichtweise bestärkt. Dort sagte er, dass er von den Gläubigern erpresst worden sei, das Sparprogramm zu akzeptieren. Er habe keine andere Wahl gehabt, als zuzustimmen. Er glaube auch nicht wirklich dran. Aber alles andere hätte zum Sturz der Regierung geführt, nichts anderes hätten die Kreditgeber immer gewollt. Je häufiger Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in Deutschland den Grexit oder auch nur einen Grexit auf Zeit ins Spiel bringt, desto mehr verfestigt sich im Weltbild der Tsipras-Anhänger die Sichtweise, dass ein großer Plan dahintersteckt, die erste Regierung abzulösen, die wirklich die Sparpolitik beenden wollte.

So seltsam es klingen mag, nach all den turbulenten Wochen, den Wenden, den gebrochenen Versprechen - wenn es demnächst zu Neuwahlen kommen sollte, dürfte Tsipras gute Chancen haben, wiedergewählt zu werden. Umfragen zufolge sind fast 60 Prozent der Griechen mit seiner Arbeit zufrieden. 70 Prozent waren auch dafür, dass das Parlament dem schmerzhaften Kompromiss zustimmt. Und die Opposition hat im Moment keine Alternative zu Tsipras anzubieten.

Dies dürfte der Grund dafür sein, dass es der Premier auf einen Bruch mit dem radikalen Flügel seines Linksbündnisses ankommen lässt. Durch Syriza geht ein tiefer Riss. 38 Abweichler - das ist eine beträchtliche Zahl. Auch Tsipras' einstiger Weggefährte, Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis, stimmte in der Nacht zu Donnerstag gegen dessen Politik. Er sieht in dem Abkommen einen "Vertrag von Versailles", es könne Griechenland ruinieren. Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou spricht von einem "sozialen Genozid", der drohe. Jedes Baby in Griechenland komme mit 32 000 Euro Schulden zur Welt.

Starke Worte. Nun, am Tag danach, beginnt die Schadensinspektion in Athen: Wie sehr hat Syriza gelitten? Wie steht es um die Regierungskoalition? Tsipras, so viel ist klar, muss sein Kabinett umbauen. Vize-Finanzministerin Nadia Valavani ist aus Protest gegen die neuen Sparauflagen zurückgetreten. Mit Leuten wie Energieminister Panagiotis Lafazanis kann er kaum mehr weitermachen. Der führt die Linke Plattform an, den radikalen Flügel in Syriza, der nicht mehr hinter Tsipras' Politik steht. Fünf oder sechs Minister könnte er austauschen, heißt es in Athen.

Die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit ist indes vom Tisch. Die Opposition hatte im Parlament klargemacht, dass sie Tsipras zwar dabei unterstützt, zu einer Einigung mit den Geldgebern zu kommen. Mehr aber auch nicht. Es könnte also darauf hinauslaufen, dass Tsipras mit seinem rechtspopulistischen Koalitionspartner Anel die Arbeit zunächst fortsetzt. Rebellen-Anführer Lafazanis sagte: "Wir stützen die Regierung, sind aber gegen die Sparprogramme." Für die Kreditgeber in Brüssel verheißt das nichts Gutes - wenn es künftig an die Feinarbeit bei der Umsetzung der Gesetze geht, müssen sie jedes Mal zittern, ob Tsipras eine Mehrheit zusammenbringt.

Tsipras' Innenminister Nikos Voutsis war am Donnerstag schon das zweite Kabinettsmitglied, das Neuwahlen im Herbst in Aussicht stellte - nichts, vor dem sich der Premierminister wirklich fürchten dürfte. Das Volk zu befragen, hat ihm bisher nicht geschadet.

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