Bei der Diagnose ist man sich noch einig. Ist die Demokratie im Land in Gefahr? „Absolut“, sagt Anne Rabe, vor allem in Ostdeutschland, aber dies strahle auch auf den Westen ab. „Wir haben die Bürger sukzessive immer weiter verloren“, sagt Michael Kretschmer. Bei den Gegenmitteln aber tun sich erhebliche Differenzen auf beim Panel des „SZ Wirtschaftsgipfels“ zur Demokratie mit der ostdeutschen Schriftstellerin Anne Rabe, Sachsens Ministerpräsident Kretschmer (CDU) und der Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff, die das Peace Research Institute Frankfurt leitet. Viele Menschen trauten der Demokratie keine Lösung der Probleme mehr zu und sie glaubten nicht mehr an gemeinsame Lösungen mit politisch Andersdenkenden, sagt Deitelhoff.
Kretschmer hat gerade reichlich Erfahrung sammeln müssen, wie es sich regiert, wenn den Parteien der demokratischen Mitte die Wähler davonlaufen. Seine CDU hat sich bei den jüngsten Landtagswahlen im September zwar noch knapp auf den ersten Platz vor der AfD gerettet. Gespräche für eine Regierungsmehrheit aus CDU, BSW und SPD sind vergangene Woche aber gescheitert, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ging im Streit über eine Friedensformel zum russischen Krieg in der Ukraine, die Migrationspolitik und Finanzfragen. Nun läuft es in Dresden wohl auf eine Minderheitsregierung aus CDU und SPD hinaus.
Mit der AfD, die hier ohne Zweifel als Hauptfigur der Demokratiegefährder gilt, will Kretschmer nicht paktieren. „Es gibt keine Absprachen, es gibt keine Vereinbarungen“, sagt Kretschmer. Aber das reiche eben nicht, um die Demokratie abzusichern. Man müsse auch mit der AfD reden, so wie er es vergangene Woche mit Sachsens AfD-Chef Jörg Urban getan hat, die Isolation der in Sachsen als rechtsextremistisch eingestuften Partei habe es der AfD nur erleichtert, „sich als Märtyrer hinzustellen“.
Kretschmer hat aber auch die Diskussionskultur im Land ausgemacht als Ursache für die Hochkonjunktur der Extremisten und Populisten. Die Aktionen von Linksextremisten würden in der Öffentlichkeit verharmlost, etwa die heftigen Ausschreitungen bei internationalen Gipfeltreffen; beim G-20-Treffen 2017 in Hamburg war es zu vielen Gewalttaten gekommen. Wenn Bürgerinnen und Bürger aber gegen die Migrationspolitik protestierten, würden sie schnell als Rechtsextremisten gebrandmarkt. Man müsse das, was sie sagten, aber wahrnehmen, sagt Kretschmer – und Lösungen anbieten. „Wir müssen den Diskursraum breiter machen.“ Die demokratischen Parteien sieht Kretschmer in der Pflicht, Schärfe aus den Debatten untereinander herauszunehmen. Aufgeklärte Demokraten müssten „zusammenhalten“. Müssten zeigen, dass „der Kompromiss uns wichtiger ist, als die Dinge auf die Spitze zu treiben“. Es seien doch „alles Menschen“.
Die AfD nicht als Stimme des Volkes adeln
Kretschmers Rezepte aber wollen Rabe und Deitelhoff so nicht stehen lassen. „Es sind alles Menschen? Das ist ein bisschen Kitsch“, sagte Rabe. „Sie haben so gegen die Grünen gewettert im Wahlkampf.“ Sie hält auch den Umgang Kretschmers mit dem BSW für reichlich misslungen. Es sei doch absehbar gewesen, dass eine Koalition mit diesem kompromisslosen Bündnis nicht möglich gewesen sei. Auch die Ansage, nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten, hält die in Wismar geborenen Autorin nicht für stichhaltig. Warum, fragt sie, habe die CDU dann zusammen mit der AfD den Posten des Ausländerbeauftragten in Bautzen abschaffen wollen? In der Stadt stellt die AfD die größte Fraktion im Stadtrat, der Antrag benötigte zum Durchkommen allerdings Stimmen aus anderen Fraktionen, welche sich auch aus den Reihen der CDU fanden. Die sogenannte Brandmauer zu den Rechtsextremen war wieder einmal durchbrochen.
Für Nicole Deitelhoff redet Kretschmer mit seinen Thesen die Gefahr durch Rechtsradikale klein, die Forscherin teilt seine Analyse zur Diskussionskultur nicht. Gewaltsame Linksextreme würden durchaus scharf kritisiert, während es mehr Gewalt durch Rechtsextremisten gebe. „Das ist natürlich schon eine Verharmlosung, die Sie jetzt vornehmen“, sagt Deitelhoff Richtung Kretschmer. Beim Thema Krieg in der Ukraine aber, da gibt sie Sachsens Ministerpräsident recht, habe die Debatte die Meinung vieler Bürger zu wenig abgebildet. Man habe die Forderungen nach Frieden „Parteien wie AfD und BSW überlassen“. Man habe die Sorgen der Bürger nicht ernst genug genommen.
Was aber bedeutet das für den Umgang mit der AfD? Man dürfe die AfD deshalb doch nicht als Stimme des Volkes adeln, sagt Deitelhoff. Als Vertreter derjenigen, denen man mehr zuhören müsste. Man dürfe nicht „mit der AfD über das Volk sprechen“, sagt sie. Stattdessen müssten die etablierten Parteien selbst Konzepte anbieten, damit die Menschen der Demokratie wieder mehr zutrauen.