Süddeutsche Zeitung

Kreativwirtschaft:Flohmarkt der Scheinwelten

Eine riesige Pappmaché-Torte für einen Werbefilm, eine Galashow mit Tausenden Sektgläsern: Oft fliegen teure Kulissen und Requisiten nach einem Hochglanzauftritt in den Müll. Gleichzeitig mangelt es Lehrern und Kleinkünstlern an Ausstattung. Da müsste man mal was machen, dachten sich zwei Unternehmensgründer.

Von Nadia Pantel, Hamburg

Wenn der gut drei Meter hohe, hölzerne Frauentorso in das mittlere Regal passt, dann könnte er direkt neben der Rikscha stehen und dafür können die mehr als 100 Lampenschirme dann bleiben, wo sie sind. Nur wo werden die Boote aus Holz, Pappmaché und Pressspan einsortiert? Tetris-Stimmung in der Lagerhalle im Hamburger Oberhafen.

Jens Gottschau manövriert mit dem Gabelstapler zwischen den Regalen hin und her, während Petra Sommer im grünen Arbeitsoverall große Kulissenbauteile aus dem Weg räumt. In wenigen Tagen wird auch der letzte Gegenstand einsortiert sein, und es wird noch mehr Platz für Skurriles, Wertvolles, Sperriges, Schönes geben. Dann wickeln Gottschau und Sommer ein paar Kilometer überdimensioniertes Geschenkband samt riesiger roter Plastikschleife ums Gebäude herum: Am kommenden Montag eröffnen sie die "Hanseatische Materialverwaltung".

"Eigentlich hatten wir nur eine ganz einfache Idee", sagt Gottschau. Nach jeder Theaterproduktion, nach jeder Fernsehshow und nach jedem Werbedreh bleiben wertvolle Materialien übrig. Von teuren, schwer entflammbaren Stoffen wie Molton über passgenau angefertige Stellwände bis zur meterhohen Pappmaché-Torte oder einem raumteilenden Vorhang aus Sektgläsern.

Oft ist der Aufwand, die Materialien einzulagern, größer, als sie einfach zu verschrotten. Und so wandern Millionenwerte nach einmaliger Benutzung in die Mülltonne. Während gleichzeitig in Schulen, Kindertagesstätten oder in der freien Kunstszene noch nicht einmal das Geld für einen vernünftigen Bühnenvorhang da ist. Das möchte die Hanseatische Materialverwaltung nun ändern. Wenn zum Beispiel ein Theater Platz in seinem Fundus schaffen möchte, bestellt es den Lieferwagen des Second-Hand-Handels. Der holt ab, was übrig ist, und sobald die Kulissenteile eingelagert sind, können sie von gemeinnützigen Einrichtungen oder anderen, die Ideen, aber kein Geld haben, für einen kleinen Preis gekauft werden. Von denen nehmen, die zu viel haben, denen geben, die zu wenig haben: Robin Hood für die Kunst, sozusagen.

So weit, so anarchisch. Nur, dass Robin Hood im Sherwood Forest nicht erst hunderte Quadratmeter Lagerfläche organisieren musste, keinen Lastwagen und Tragehelfer brauchte und sich selbst auch kein Gehalt auszahlen wollte.

Denn so simpel die Grundidee der Hanseatischen Materialverwaltung ist, so lang war der Weg zu ihrer Umsetzung. Petra Sommer arbeitet seit zwanzig Jahren als Ausstatterin. Zunächst am Hamburger Schauspielhaus, später dann in privaten Filmproduktionen und in der Werbung. Sie weiß, wie viel Energie und Geld die Branche in das Erschaffen immer neuer Welten investiert. Wie für einen einminütigen Werbeclip eines Elektromarkts 300 knallrote Jogginganzüge herangeschafft werden. Und wie dann drei Tage später niemand weiß, wohin mit den Sachen.

"Wir haben oft geflucht, was wir alles wegschmeißen mussten, weil wir keinen Platz und keine Zeit hatten, um uns über eine vernünftige Lagerung Gedanken zu machen", sagt Sommer. Da müsste mal jemand was machen - Sommer hat diesen Satz oft gesagt und oft gedacht. Es brauchte ein Treffen mit Gottschau, bis sie daran zu glauben begann, dass sie genau die Person sein könnte, die einfach mal anfangen könnte zu handeln. "Der hat die gleiche Idee wie du", stellte eine Bekannte im Januar 2012 die beiden einander vor.

"Ich komme von der anderen Seite", sagt Gottschau heute. Gottschau hat Illustration studiert und als freier Künstler gearbeitet. Während Sommer vom Überfluss kommt, gehörte Gottschau zu denen, die Baustellen und Schrottplätze durchsuchen, um brauchbares Material für die Umsetzung ihrer Ideen zu finden. Sechs Wochen nach ihrem ersten Treffen schrieben Sommer und Gottschau einen Businessplan. Gleichzeitig suchte die Stadt Hamburg nach einem Nutzungskonzept für eine alte Lagerhalle. Unter 15 Bewerbern ging der Zuschlag an die Materialverwalter.

So kommen nun zwei Konzepte zur Wiederverwertung zusammen: Sommer und Gottschau recyceln Kulissen, die Stadt recycelt sich selbst. Im Oberhafen steht Backsteinhalle neben Backsteinhalle, dazwischen die alten Gleise für die Güterzüge. Und hier will Hamburg den Dreischritt der modernen Stadtentwicklung vollenden: gestern Industrie, heute Brache, morgen Kultur. "Kreativquartier Oberhafen" lautet die offizielle Zielsetzung; Sommer und Gottschau hat sich die Stadt als Pioniere ausgesucht.

"Diese Halle mitten in der Stadt ist für uns ein Glücksfall", sagt Sommer. Und ein wenig scheint es nicht nur Glück, sondern Schicksal zu sein. Hoch oben im Giebel der Halle hängt ein kleines Foto auf dem ein zwölf Meter hoher Turm aus Fenstern und Türen zu sehen ist. Den Turm hat Gottschau im Herbst 2011 an genau dieser Stelle bis direkt unters Dach gebaut. Im Auftrag der städtischen Kunstförderung, die dort feierte. Bevor Gottschau den Turm wieder abbaute, kletterte er ganz nach oben und befestigte das Foto mit vier langen Schrauben direkt ins Holz. Eigentlich war das Bild als Gruß gedacht, an den Nächsten, der hier seinen Traum realisiert. Dass er es selbst sein würde, hätte er nie gedacht.

Kaum war klar, dass er mit der Materialverwaltung wahr werden würde, kamen auch schon die ersten Anrufe. Das St.-Pauli-Theater wollte Kulissenelemente, einen Hau-den-Lukas und ein großes Holzschiff spenden. Das Hamburgmuseum hatte Vitrinen abzugeben und das Atlantik-Film-Kopierwerk wollte Umspultische, Leuchtkästen und Entwicklungsmaschinen lieber verschenken als sie zu verschrotten.

Gottschau und Sommer gründeten die "Materialnotaufnahme". Und warten nun seit eineinhalb Jahren darauf, endlich eröffnen zu können und sich das erste Gehalt ausbezahlen zu können. "Wir wollen von dieser Idee leben können", sagt Gottschau, "Und wir wollen etwas tun, das Teil einer Lösung ist. Nicht Teil des Problems."

Gottschau und Sommer gehören zu den Menschen, die moderne Großstädte inzwischen gern als Dekoartikel im Stadtmarketing einsetzen: Künstler und solche die aussehen, als könnten sie Künstler sein. "Kreativwirtschaft" hat in diesen Kreisen etwas Anrüchiges. Die Aufforderung, Kunst als Profitgeschäft zu betreiben. "Am Liebsten wäre es mir, wenn wir hier gar kein Geld in die Hand nehmen müssten", sagt Sommer. Nicht etwa, weil sie Recycling-Apostel wäre, sondern weil sie sich einfach am meisten auf den Moment freut, "wenn das erste Mal eine Kunstlehrerin hier reinkommt und mit dem ganzen Kofferraum voll wunderbarer Dinge wieder wegfährt".

Sommer und Gottschau verwenden das Wort Nachhaltigkeit nicht, sie setzen es um. Und sorgen dafür, dass im Detail ein wenig Wahnsinn steckt. Als sie für ihre Geschäftsidee ein Logo brauchten, zeichnete ihnen eine Freundin einen Windhund im Arbeitskittel, der ein paar Holzlatten unter den Arm geklemmt hat und einen Hammer in der Hand hält. Denn natürlich: Eine echte Verwaltung braucht ein Wappentier.

Wie viel Liebe und Arbeit in diese Details investiert wird und wie wenig in unternehmerische Visionen, scheint potenzielle Geldgeber manchmal zu irritieren. Warum ausgerechnet Materialien gemeinnützig und nicht profitorientiert abgegeben werden sollten, konnte viele nicht verstehen. Die Gunst der Stadt haben sie sich dennoch erarbeitet. 170.000 Euro investieren die Kulturbehörde, die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt und die Hafencity Hamburg GmbH gemeinsam in die Materialverwaltung. Eine Anschubfinanzierung, wie die Behörden betonen.

"Die Materialverwaltung ist sehr wichtig, um Kunstunterricht an den Schulen und freie Theaterprojekte zu unterstützen", sagt Enno Isermann von der Hamburger Kulturbehörde. Doch das Materialrecycling auf Dauer zu finanzieren, könne nicht langfristig Aufgabe der Stadt sein. "Wir haben keine Ressourcen für eine längerfristige Förderung", stellt Isermann klar. Von 2015 an soll sich das Unternehmen selber tragen. Durch private Spender und Förderer und dadurch, dass sie 30 Prozent ihrer gesammelten Materialien kommerziell weiterverkaufen.

Noch ist unsicher, ob dieses Modell aufgehen wird. Doch Grund zur Hoffnung gibt ein großes Vorbild: das "Material for the Arts"-Programm in New York. Hier funktioniert seit 35 Jahren erfolgreich, wovon die Hamburger träumen. Allein im Jahr 2009 wurden hier gebrauchte Materialen im Wert von sieben Millionen Dollar an Schulen, Kindergärten und kleine Theaterbetreiber vermittelt.

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