Süddeutsche Zeitung

Kosten der Sturm-Katastrophe:"Sandy" deckt Amerikas Schwachstellen auf

Was die Menschen sehen, ist erschreckend: niedergebrannte Häuser in Queens, die Südspitze Manhattans überschwemmt, die Strandpromenade von Atlantic City verwüstet. Amerikas Ostküste hat ohne Zweifel eine Jahrhundertkatastrophe durchlebt. Experten rechnen mit enormen Schadenssummen. Der Sturm war unvermeidbar, doch die Kosten haben auch politische Ursachen.

Nikolaus Piper, New York

Am Morgen danach nahm Amerika den Schaden in Augenschein. Kurz vor Mitternacht hatte Bürgermeister Michael Bloomberg am Montag den New Yorkern noch verkündet, dass die Jahrhundertflut ihren Gipfel überschritten hatte und das Schlimmste von Hurrikan Sandy vorbei sei. Nun, als der Morgen über den Verwüstungen graute, versuchten Reporter der lokalen und nationalen Kabelstationen, in Regenjacken und Gummistiefeln, ihren Zuschauern ein Bild von der Lage zu vermitteln.

Was die Menschen sahen, war schockierend: brennende Häuser in Queens, die Südspitze Manhattans überschwemmt, die Strandpromenade von Atlantic City in New Jersey verwüstet. Die Ostküste hatte ohne Zweifel eine Jahrhundertkatastrophe durchlebt. Mehr als vier Meter über Normal hatte der Pegel vor New York auf dem Höhepunkt der Flutwelle in der Nacht erreicht. So etwas hatte es noch nie gegeben. Präsident Barack Obama erklärte New York zum nationalen Katastrophengebiet.

Experten begannen derweil mit ersten Versuchen, den Schaden zu beziffern. Eqecat, eine Firma aus Oakland (Kalifornien), die sich auf Risikomodelle spezialisiert hat, veröffentlichte noch in der Nacht eine erste Schätzung: zehn bis 20 Milliarden Dollar Gesamtschaden, wovon fünf bis zehn Milliarden Dollar versichert sind. Die Kinetic Analysis Corporation aus Maryland sprach ebenfalls von 20 Milliarden Dollar.

Der Wirbelsturm Irene, der New York im vergangenen Jahr getroffen hatte, kostete allein in den USA 15 Milliarden Dollar. Die bei Weitem teuerste Unwetterkatastrophe der amerikanischen Geschichte war Hurrikan Katrina, der 2005 New Orleans und die Küste von Louisiana verwüstet hatte. Katrina kostete nach Schätzungen der Wetterbehörde NOAA insgesamt 125 Milliarden Dollar, 60 Milliarden davon waren versicherte Schäden.

"Sandy wird wahrnehmbare, aber vorübergehende Folgen für die US-Wirtschaft haben", sagte Ryan Sweet, Ökonom bei der Agentur Moody's. "Naturkatastrophen treffen Volkswirtschaften anfangs schwer, aber lösen hinterher zusätzliche Aktivitäten aus. Wir erwarten, dass Verluste in diesen Tagen während der kommenden Wochen wettgemacht werden. Das dürfte die Folgen für das Bruttoinlandsprodukt minimieren."

Börse mit Problemen

Das sind allerdings Überlegungen, die die Volkswirtschaft insgesamt betreffen. Einzelne Unternehmen und Branchen müssen weitreichende Konsequenzen aus den Erfahrungen mit Sandy ziehen. Zum Beispiel die New York Stock Exchange, NYSE. Die Börse an der Wall Street war Montag und Dienstag, also an zwei Tagen nacheinander, wetterbedingt geschlossen. Das hatte es zuletzt bei einem Blizzard im Jahr 1888 gegeben.

Zunächst einmal musste die Verwaltung der NYSE Gerüchte zurückweisen: Nein, es treffe nicht zu, dass das Börsenparkett überflutet worden sei. Alles sei trocken und sauber in dem berühmten Gebäude an der Wall Street. Gleichzeitig testete die Börse am Dienstag allerdings einen Notfallplan. Sollte es sich als unmöglich erweisen, das Parkett zu öffnen, würde der Handel auf eine elektronische Plattform namens Arca umgeleitet. Bis zum Abend war aber geplant, am Mittwoch wieder den normalen Parketthandel zu beginnen.

Salzwasser könnte U-Bahn-System beschädigen

Noch nicht abzuschätzen sind die Schäden, die der Sturm in der New Yorker U-Bahn angerichtet hat. "Das U-Bahn-System ist 108 Jahre alt, aber es hat noch nie ein so zerstörerisches Desaster erlebt wie in der vorigen Nacht", sagte der Chef der Verkehrsbehörde MTA, Joseph Lhota. Sieben U-Bahn-Tunnel unter dem East River und sechs Busdepots standen am Dienstag unter Wasser, die Vorortbahnen im Norden und Nordosten New Yorks waren ohne Strom.

Besonders gefährlich ist das Salzwasser, das in einige U-Bahnhöfe im Süden Manhattans gelaufen war; es beschleunigt die Korrosion aller Metallteile. Wann es den Beschäftigten der MTA gelingen würde, die U-Bahnen wieder in Gang zu bringen, war am Dienstag zunächst noch völlig unklar.

Auch auf die Fluggesellschaften kommen erhebliche Kosten zu. Insgesamt 14.600 Flüge wurden bis zum Montagabend gestrichen, das sind mehr als beim Hurrikan Irene (10.000). Der amerikanische Einzelhandel könnte getroffen werden, weil der Sturm die Ostküste einen Tag vor dem 31. Oktober verwüstete, der in Amerika als "Halloween" traditionell von den Kindern mit Verkleidungen und Straßenumzügen gefeiert wird. Halloween-Produkte sind ein wichtiger Markt für viele Läden.

Viel grundsätzlicherer Art sind die Probleme, denen sich die amerikanischen Stromversorger gegenübersehen. Sechs Millionen Haushalte und Unternehmen waren am Dienstagvormittag entlang der Ostküste ohne Strom. Im Gebiet des New Yorker Elektrizitätswerks Con Edison waren 670.000 Familien betroffen. Die Zahl übertraf selbst die schlimmsten Befürchtungen bei Weitem. Sie war vor allem deshalb so hoch, weil an der 14. Straße in Manhattan ein Umspannwerk überflutet wurde und in Brand geriet. Dadurch lag plötzlich ganz Lower Manhattan im Dunkeln.

Während ein Unfall dieser Art angesichts der Schwere der Katastrophe vermutlich niemals ausgeschlossen werden kann, sind andere Defekte im amerikanischen Stromsystem politisch verschuldet. Seit Jahren wird in die Modernisierung der Netze zu wenig investiert. Das zeigt sich darin, dass Stromleitungen auch in dicht besiedelten Gebieten meist nicht unter der Erde geführt werden, sondern an leichten Holzmasten.

Ein besonders plastisches Beispiel ist der New Yorker Stadtteil Staten Island. Dort sind die meisten Straßen von Alleebäumen gesäumt, die auch bei kleineren Stürmen oder starkem Schneefall auf die Leitungen fallen. Am Dienstag waren in Staten Island 79.000 Haushalte ohne Energie. All dies ist Teil eines tieferen Problems. Zum Vergleich: China investiert jährlich neun Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) in die Infrastruktur, die Europäische Union fünf Prozent. In Amerika sind es nur 2,5 Prozent.

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SZ vom 31.10.2012/feko
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