Kontrollitis und gieriger Fiskus:Kollateralschaden im Fall Hoeneß

Was Uli Hoeneß mit dem Scheinriesen Herrn Tur Tur verbindet, warum Steuerhinterziehung kein "Kavaliersdelikt" mehr ist und weshalb der Finanzminister nun noch maßloser einkassieren wird. Gedanken über den Steuerstaat, in dem wir leben.

Von Marc Beise

Mit dem Menschen Uli Hoeneß ist es wie mit dem Scheinriesen Herrn Tur Tur aus Michael Endes Buch "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer". Aus der Ferne betrachtet, besonders aus Dortmund (Borussia) oder aus Bremen (Werder) oder ganz allgemein aus der Warte des Fußballhassers, war dieser Mann seit Jahrzehnten ein massiges Schreckgespenst, ein unangenehmer Typ, überheblich, unbeherrscht, eine Reizfigur.

Je näher man ihm kam, desto menschlicher wurde der Koloss von der Säbener Straße, desto sichtbarer wurde der weiche Kern, spürte man den Wohltäter, den Kümmerer. Ein wirklich guter Mensch sei das, sagen seine Freunde und sagte sein Anwalt im Prozess. Hoeneß selbst hat dazu schon im vergangenen Jahr im Zeit-Interview die Vorlage geliefert: "Ich habe Riesenmist gebaut, aber ich bin kein schlechter Mensch."

Das Problem ist nur - und das macht den Einzelfall so grundsätzlich relevant -, dass Hoeneß selbst definiert hat, was für ein guter Mensch er ist. Er konnte das sogar in Zahlen fassen. Er habe doch "verdammt viel Steuern" gezahlt in seinem Leben, 50 Millionen Euro mindestens, und da konnte man ein wenig das Argument mitschwingen hören: Das muss ja dann wohl reichen, und mit dem Rest nimmt man es nicht ganz so genau. Wer so denkt, maßt sich die Rolle des Souveräns zu. Er entscheidet selbst, wann er was dem Staat gibt. Und was nicht.

Man kann es das patriarchalische Weltbild nennen.

Patriarch - ein Modell von gestern

Allerdings ist der Patriarch ein Modell von gestern. Das war der - im besten Fall: gute - Herrscher, der den Seinen gab, was sie brauchten. Der Gutsherr, dessen Schäfchen das Land bestellten. Der Familienunternehmer, der keinen Betriebsrat braucht, weil er selbst ja am besten weiß, was gut ist für seine Mitarbeiter.

Heute aber läuft das anders, nach einem System, das uns die Klassiker der frühen Neuzeit von Thomas Hobbes über John Locke bis Jean-Jacques Rousseau in unterschiedlicher Ausprägung vorgedacht haben. Der Souverän, der freie Mensch, tut sich mit anderen Souveränen zusammen und schließt einen Gesellschaftsvertrag: Er gibt einen Teil seiner Freiheit auf, um dafür von der Sicherheit, Bequemlichkeit und letztlich auch vom Wohlstand der Gemeinschaft zu profitieren. Das impliziert, dass der Staat - verkörpert durch repräsentative Vertretungen, ausbalanciert durch die Gewaltenteilung, kontrolliert durch die öffentliche Meinung - seine Bürger bestimmt. Er entscheidet beispielsweise konkret darüber, wie viele Steuern zu zahlen sind, und seien es mehr als 50 Millionen.

Das ist das andere, das demokratische Weltbild.

Eigentlich ist das Verhältnis dieser beiden Welten im Deutschland des 21. Jahrhundert geklärt: Demokratie schlägt Patriarchat. Im privaten Alltag sagt dann einer, wenn er bei der Abstimmung über das nächste Urlaubsziel überstimmt wird, schon mal: "Demokratie ist doch Mist." Das ist eigentlich Spaß. Aber manche machen Ernst draus - namentlich dort, wo es um Geld geht. Wo es um Steuern geht.

Die Selbstanzeige belohnt die Reue des Steuerhinterziehers

Zwar gehört zum Gemeinwesen durch Gesellschaftsvertrag auch, dass der Staat sich einen Teil des Geldes nimmt, den seine Bürger unter seinem Schutz verdient haben. In Deutschland nimmt er sogar prozentual mehr, je mehr verdient wird, das nennt man das progressive Steuerrecht, der Tarif steigt mit dem Einkommen. Wer sich diesem Deal widersetzt, macht sich strafbar. Steuerstraftaten sind wie andere Vermögensdelikte auch: wie Diebstahl beispielsweise und Betrug.

Allerdings - und das ist der große Systembruch - gibt es im Steuerrecht die strafbefreiende Selbstanzeige. Der Steuerhinterzieher wird für seine Reue belohnt, indem er sich rechtzeitig und vollständig anzeigt, indem er nicht wartet, bis der Staat ihm auf die Schliche kommt. Das ist eine Privilegierung, die einem nicht gefallen muss, die aber bisher notwendig war - weil sie auf die Bedeutung und gleichzeitig auf die Flüchtigkeit des Geldes abstellt.

Weil ein Staat und seine Wirtschaft das Geld der Menschen brauchen, das viele, sich summierende Geld des "kleinen" Steuerzahlers, aber auch die Millionen und Milliarden der großen Investoren, weil gleichzeitig insbesondere die großen Vermögen leicht über die Hoheitsgrenzen hinaus verschoben werden können, wirbt der Staat um seine Geldgeber, indem er sie umschmeichelt. Besser, einer bereut und bringt das Geld zurück, als dass man ihn jagt und hetzt und in Steueroasen aus dem Blick verliert - das ist die Ratio.

"Kavaliersdelikt", Prominentenbonus - das war einmal

Zur systemwidrigen Privilegierung des Geldes im modernen Staat passt die Nachsichtigkeit gegenüber dem Gesetzesverstoßer im Alltag. Sie manifestiert sich schon im Begriff des Steuer-"Sünders", der unzulässig verniedlicht. Wer Steuern hinterzieht, ob im Kleinen oder im Großen, wäre danach nur ein Sünder. Einer, der sich etwas Lässliches hat zuschulden kommen lassen. Etwas, über das man mit einem Augenzwinkern hinweggehen kann - jedenfalls im jeweiligen sozialen Umfeld des Steuersünders. Und zwar unabhängig von der Frage, ob die anderen es ebenso trieben, und das ist ja das Spannende: Der Steuersünder wurde nicht nur von anderen Steuersündern exkulpiert, sondern auch von den Steuerehrlichen: klar, kein Thema. Ein "Kavaliersdelikt" eben - noch so ein Wort aus der guten alten Zeit des Steuersünders.

In der politischen Aufarbeitung des Hoeneß-Urteils erwecken manche Politiker jetzt den Eindruck, als lebe diese gute alte Zeit in voller Blüte fort, weshalb man sich umso mehr freuen könne, dass mit dem Bayern-Präsidenten ausnahmsweise mal ein ganz großer Fisch ins Netz gegangen sei. So ist das aber nicht, es hat sich etwas geändert in Deutschland und sogar darüber hinaus. Schon lange können Bestechungsgelder nicht mehr von der Steuer abgesetzt werden. Schwarzgeldoasen wie Liechtenstein und die Schweiz stehen am Pranger. Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt mehr. Vor Gericht gibt es keinen Prominentenbonus mehr.

Demokratie schlägt Patriarchat selbst im Steuerrecht, und das ist gut so.

Trotz steigender Einnahmen entlastet der Fiskus nicht

Besser wäre freilich, die Dinge würden sich nicht nur auf der Seite des Einzelnen in die richtige Richtung entwickeln, sondern auch aufseiten der Institutionen. Denn der Gesellschaftsvertrag, die Dominanz des Kollektivs über den Einzelnen, funktioniert ja nur, wenn der Staat ebenso seine Grenzen kennt wie das Individuum. Der Steuer- und Abgabenstaat aber ist maßlos wie eh und je, ja er wird immer maßloser. Steuern und Abgaben im internationalen Vergleich sind hoch, und sie bleiben hoch, trotz der guten Zeiten, die die Deutschen gerade erleben als Profiteure der Verschuldungskrise in anderen Staaten.

Erstmals seit mehr als 40 Jahren plant der Bundesfinanzminister ohne allzu große Anstrengung wieder einen ausgeglichenen Haushalt, will also ohne neue Schulden auskommen - so gut geht es dem Land. Und dennoch lockert sich der Griff des Fiskus nicht, im Gegenteil: Wenn das Einkommen steigt, beteiligt sich der Staat entgegen allen Sonntagsreden weiterhin ungebührlich stark (Fachwort: "kalte Progression"). Nicht mal gegenüber den besonders Bedürftigen, den Alleinerziehenden, gibt der Staat nach, sondern verweigert ihnen gerade, obwohl es im Koalitionsvertrag anders besprochen ist, eine steuerliche Entlastung.

Wer mehr Geld verdient, kommt trotz des Steuerzugriffs natürlich besser über die Runden, aber er sieht fassungslos, dass dem Staat im Zusammenspiel von Steuern und anderen finanziellen Belastungen jedes Maß fehlt. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Ägide des "Professors aus Heidelberg", Paul Kirchhof, versucht, mit dem "Halbteilungsgrundsatz" dem Staat einen Riegel vorzuschieben: Dieser möge bitte nur bis zur Hälfte desjenigen nehmen, was des Bürgers ist. Das ist von allen willkürlichen Maßen der am wenigsten willkürliche, gut aus der Kultur- und Verfassungsgeschichte zu begründen. Dieser Maßstab passt zum Gesellschaftsvertrag. Nur ist er mit dem Jura-Professor Kirchhof in Rente gegangen.

Der Philosoph Sloterdijk nennt Steuern anachronistisch

Der gefräßige Staat aber liefert damit den kleinen und großen Steuerverkürzern immer neue Argument für ihr Tun: Dieser Staat, der euch so ausnimmt, gehört betrogen. Und dann greift der Staat noch härter durch und fordert noch mehr fiskalischen Gehorsam, ein Teufelskreislauf. Übrigens: Beim Kampf gegen Steuerhinterzieher besonders engagiert ist der nordrhein-westfälische Finanzminister Norbert Walter-Borjans - ausgerechnet er hat von allen Landesfinanzministern die höchste Neuverschuldung zu verantworten. Zufall?

Ein prickelndes Gedankenspiel dazu hat der Philosoph Peter Sloterdijk vorgetragen, für das er viel kritisiert worden ist: die Abschaffung der "Zwangssteuern". Steuern sind für ihn anachronistisch, schlimmer: Ausdruck eines obrigkeitsstaatlichen Verständnisses, das wir doch überwunden haben. Im demokratischen Zeitalter müsse der Mensch als nehmendes und gebendes Wesen verstanden werden. Dazu würde passen, dass der Staat seine Steuern nicht mehr zwangsweise einzöge, sondern ein System des freiwilligen Schenkens unterstütze. Das soziale Band, meint Sloterdijk, erodiere, wenn die Leistungen der Steueraktiven zu einem zwangsweisen Automatismus herabgewürdigt würden.

Jetzt blüht die Kontrollitis erst richtig auf

Hoeneß wird dieser Gedanke gefallen haben, aber sein Tun ist nicht geeignet, Unterstützung für Sloterdijk zu generieren. Im Gegenteil blüht die Kontrollitis jetzt erst richtig auf. Es ist schon reichlich widersinnig: In der NSA-Debatte verteidigen die Deutschen ihre Daten mit Zähnen und Klauen, bei den Steuern geht es anders herum. Vertrauliche Informationen werden weitergegeben, der Staat ködert Datendiebe, Steuerdaten auf CDs zu brennen und zu verkaufen, und Steuersünder werden mit Lust an den Pranger gestellt.

Uli Hoeneß hat der Steuerdiskussion einen schlechten Dienst erwiesen. Bemühungen um Steuerrechtsreformen sind desavouiert. Wer jetzt vor allem den maßlosen Staat geißelt (und Hoeneß war einer von denen, die das öffentlichwirksam taten), steht im Verdacht, als wolle er von den Taten der - prominenten - Steuerstraftäter ablenken. Zumindest aber hält man ihm vor, er sei auf der falschen Baustelle unterwegs.

Einer hat sich über das Gesetz zu stellen versucht, das ist schlimm genug, aber er ist erwischt worden. Der Steuerstaat wird nicht erwischt, er macht munter immer weiter, nun erst recht. Das ist ein böser Kollateralschaden der Münchener Ereignisse.

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