Konsumverhalten:Erst zu Gucci, dann zu Aldi

Einkaufen Konsum Geschäfte

Das Bedürfnis, etwas unbedingt haben zu wollen (im Bild eine Hallhuber-Filiale), nehme stark ab, sagt Einzelhandelsexperte Ziegfeld.

(Foto: Alessandra Schellnegger)
  • Der paradoxe Kunde vereint verschiedene Konsummuster in einer Person und ist für die Ketten in den Innenstädten schwer einzuschätzen.
  • Mit seinem Einkaufsverhalten lässt er sich nicht in Schubladen stecken, kauft bei Tchibo ebenso wie bei Alnatura - oder gleich online.
  • Standorte müssen versuchen, den Spagat zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen des Kunden hinzukriegen. Denn an deren Widersprüchlichkeit wird sich kaum etwas ändern.

Von Michael Kläsgen

Augsburg, Einkaufszentrum, 14:23 Uhr. Das Ziel ist erreicht. Der Wirtschaftsgeograf Thomas David kennt den Ort gut. Auf seiner Rundtour ist er einer der kleinen Höhepunkte. Tatsächlich muss man nicht lang warten, bis er vor einem steht: der paradoxe Kunde, der die Innenstädte verändert. Diesmal tritt er in Gestalt eines Pärchens in Erscheinung.

Martin und Sylvia Mayer, Mitte 30, sind aus Günzburg 50 Kilometer zum Shoppen nach Augsburg gefahren. Die Kinder haben sie bei der Tante gelassen. Er trägt ein schwarzes T-Shirt mit AC/DC-Aufdruck, sie einen rötlich gefärbten Pagenschnitt und, darauf kommt es an, in der rechten Hand eine H&M-Tüte. Beide spazieren aber gerade aus dem Apple-Store, in dem sie zuvor intensiv gestöbert haben. An dem Detail erkennt der Wissenschaftler David den paradoxen Kunden. Fürs Hemd ist er bereit, 20 Euro auszugeben, das Smartphone darf aber 700 Euro kosten, obwohl er das Konkurrenzprodukt viel günstiger haben könnte.

Kaufen nach dem Sowohl-als-auch-Prinzip

"Der paradoxe Kunde hat eine multiple Persönlichkeit", sagt David. Der Doktorand am Lehrstuhl für Humangeografie der Augsburger Universität hat den neuen Kundentypus gründlich erforscht. "Er kauft nach dem Sowohl-als-auch-Prinzip, das heißt, mal qualitativ hochwertige, mal preiswerte Produkte, mal eine Armbanduhr für 1000 Euro beim inhabergeführten Juwelier, mal ein Fünferpack Socken bei C&A für zehn Euro." So vereine er verschiedene Konsummuster in einer Person, halte sich alle Optionen offen und wechsele zum Leidwesen der Händler häufig zwischen den Alternativen hin und her.

Auch Markus Epple hat diesen neuen Kunden ausgemacht. "Er kauft seinen Joghurt beim Discounter, seinen Käse vom Maître Affineur, macht Pauschalurlaub mit Tchibo und trägt Maßanzüge", sagt der Geschäftsführer der Beratungsgesellschaft Markt und Standort in Erlangen.

Mit den Anzügen hat es Martin Mayer nicht so. Aber sonst trifft alles auf ihn zu. "Ich glaub' nicht, dass es Menschen gibt, die so konsequent sind, dass sie sagen, ich kauf' mir ein iPhone, und dann kommen selbstverständlich nur noch die hochpreisigen Hemden von Olymp oder Schiesser in den Schrank." Damit beschreibt er selber den Wandel im Kaufverhalten der Deutschen. Fachleute nennen das die Diversität der postmodernen Konsumgesellschaft.

Früher, als die Welt für all jene, die etwas verkaufen wollten, noch in Ordnung war, ließen sich die Kunden leicht identifizieren. "Vor 40 Jahren teilten sich die Käufer in Mann und Frau, Jung und Alt und Reich und Arm. Das Vermarkten von Produkten war da einfach", sagt David. "Danach entwickelten sich Kundentypen wie der Qualitätskäufer, der Schnäppchenjäger und der Smartshopper." Auch bei denen konnten die Händler vergleichsweise leicht abschätzen, was und wie sie einkauften: Der Qualitätskäufer vertraute auf Markenhersteller und suchte hochwertige Produkte; der Schnäppchenjäger musste sparen, und der Smartshopper informierte sich gründlich, ehe er dann versuchte, sein Geld intelligent auszugeben.

Heute gilt das nicht mehr. Heute prägt der Verbraucher mit seinem wechselhaften und unvorhersehbaren Kaufverhalten das Stadtbild. In Augsburg lässt sich das besonders gut beobachten, weil Augsburg eine Teststadt ist. Das Marktforschungsinstitut Sociogramma zog eigens deswegen von München nach Augsburg. Ketten, Supermärkte und Kaufhäuser wie C&A am Hauptbahnhof probieren hier neue Trends aus. Immer geht es darum, Individuelles auf seine Massentauglichkeit zu prüfen. Sie testen beispielsweise, ob den Kunden neue Farben für Blusen oder neue Schnitte für Hosen gefallen, ehe sie diese dem Rest der Republik anbieten.

Denn in Augsburg lebt und kauft der Durchschnittsdeutsche, der Otto-Normal-Verbraucher, Menschen wie Martin und Sylvia Mayer, nicht reich, nicht arm, durchaus sparsam, aber auch zu kleinen Verrücktheiten bereit. Kein Zufall also, dass hier in der City Galerie der Apple-Store direkt neben dem H&M-Laden liegt. Martin Mayer sagt: "Wenn ich hier den Laden verlasse und eine Tür weiter ist H&M, und die haben etwas, was mir gefällt, dann kaufe ich das." Er hat nicht nur ein iPhone, sondern mehrere, und auch seine Frau hat eines. Aber ein klassischer Qualitätskäufer ist er deswegen nicht. Sonst könnte er auch fünf Geschäfte weiter in den Olymp-Laden mit den "hochpreisigeren Hemden" gehen.

"Man konsumiert, was man möchte"

Andererseits ist er auch kein Schnäppchenjäger, nur weil er Hemden bei H&M kauft. Mayer ist mehr, er steht für ein gesellschaftliches Phänomen. Er vereinigt in sich ein Kaufverhalten, das früher der Ober- und der Unterschicht zuzuordnen war. Die Verschmelzung von beidem lässt der Mittelschicht dazwischen keinen Platz mehr. "Niemand will mehr Mittelmaß sein", sagt David. "Man konsumiert, was man sein möchte."

Was man kauft, ist oft logisch nicht zu erklären und auch nicht unbedingt gut für die Geldbörse, aber dann spart man halt wieder woanders. "Den Verbraucher kann man nicht mehr in Schubladen stecken", sagt Epple. Er sieht die Entwicklung auch kritisch. Der "Bürger" möge zwar den kleinen Tante-Emma-Laden an der Ecke, der "Verbraucher" kaufe aber bei Amazon. Der Verbraucher macht also kaputt, was er eigentlich schätzt.

Die Widersprüchlichkeit schlägt sich noch anders im Stadtbild nieder. Aldi steht inzwischen neben Gucci und Co. auf der Düsseldorfer Flaniermeile "Kö". Der Textildiscounter Primark hat sich in Kaiserslautern und Saarbrücken an den besten Plätzen breitgemacht; und in Erlangen hat sich die exquisite Käserei Maître Affineur eine sogenannte C-Lage ausgesucht.

In Augsburg manifestiert sich das Paradoxe im Kaufverhalten nirgends so deutlich wie im Gewerbegebiet außerhalb der Stadt. Gegenüber von Lidl steht dort der Biometzger mit Fleisch aus der Region, Tchibo schaut auf Alnatura, der Ein-Euro-Laden auf das teure Spielzeug-Eisenbahn-Fachgeschäft, und das Sushi-Restaurant lockt die Kunden von C&A. Niemand hat das so geplant, es hat sich einfach entwickelt. Der ausdifferenzierte Konsumstil bringt Geschäfte zusammen, die früher nicht zusammengepasst hätten. In der Innenstadt stehen dagegen Flächen leer. Auch das ein Resultat des Kaufverhaltens, obwohl der Bürger doch so gern seine kleine Buchhandlung und das inhabergeführte Fachgeschäft in der Nähe hätte.

Er kauft Joghurt bei Aldi, Käse beim Maître Affineur, er trägt Maßanzug und reist mit Tchibo

Der Trend weist in die andere Richtung, und er wird sich nach Ansicht von Experten verstärken. Denn es wächst eine Käuferschicht nach, die das Paradoxe auf die Spitze treibt. "Die jungen Leute sehen Shoppen immer weniger als Freizeitbeschäftigung", sagt Christian Ziegfeld, Einzelhandelsexperte und Partner bei der Beratungsfirma OC&C in Hamburg. "Sie gehen selten in die Innenstadt, um dort einzukaufen, oder höchstens noch, um bei Apple oder im Modekaufhaus Breuninger vorbeizuschauen. Für viele erzeugt nur ein besonderes Einkaufserlebnis oder ein bestimmtes Gefühl Spaß beim Shoppen. Wenn das nicht geboten ist, kaufen sie oft online." Das wird die Innenstädte noch mehr verändern. Ziegfeld glaubt, dass dieser neue Trend unter anderem an der Übersättigung liegt.

Viele hätten genug anzuziehen und kauften sich deswegen nur etwas Neues, wenn es wirklich anders oder besser sei. Das Bedürfnis, etwas unbedingt haben zu wollen, nehme stark ab. "Neidisch werden viele erst bei Marken wie Hugo Boss oder Louis Vuitton. Esprit oder Gerry Weber werden immer mehr als Mainstream gesehen."

Das bringt die Ketten in Nöte. Sie wissen nicht, wie sie sich darauf einstellen sollen. Manche Filialisten dimmen das Licht, verändern die Dekoration und präsentieren jedes einzelne Stückchen Ware wie Preziosen, ein wenig so, wie Apple es mit seinen watches macht. Andere verbessern den Service oder die Beratung. Das alles zeigt, wie groß die Verunsicherung oder Verzweiflung sein muss.

Auch die Standortentwickler rätseln, was sie tun sollen. Lange hatten die Planer die Wünsche der Kunden gar nicht berücksichtigt, jetzt plötzlich wundern sich Städte und Gemeinden über die Unabhängigkeit des Verbrauchers und darüber, was sie bewirkt. Berater Epple klagt, dass viel zu lange Verwaltungsakte und der Amtsschimmel über das Angebot an den Standorten des Einzelhandels bestimmt hätten. Die Interessen der Verbraucher seien entweder völlig außer Acht, manipuliert oder falsch interpretiert worden. Das räche sich jetzt vielerorts. Man müsse den Verbraucher künftig in die Planung miteinbeziehen und ihn beeinflussen. Städte und Gemeinden müssten die Kunden online über ihre Angebote informieren und aktiv Standortmarketing betreiben.

Thomas David, Wirtschaftsgeograf

"Der paradoxe Kunde ist eine multiple Persönlichkeit. Er vereint verschiedene Konsummuster in einer Person, hält sich alle Optionen offen und wechselt häufig zwischen den Alternativen."

An der Widersprüchlichkeit sowohl beim Konsum als auch beim Angebot wird das kaum etwas ändern. "Wir wissen, dass Standorte funktionieren, an denen der Ein-Euro-Laden neben dem sehr teuren Markenladen steht. Aber diese Kombination hinzukriegen, ist für Einzelhändler sehr schwierig." Andererseits: Gelingt der Spagat, treffen sie den Geschmack der Kunden. Und dann ist weiterhin garantiert, dass Menschen wie Martin und Sylvia Mayer 50 Kilometer zum Shoppen fahren.

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