Konjunktur:Wirtschaftsweise kritisieren die große Koalition

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Die große Koalition hat das Wachstum nicht genutzt, kritisieren die Wirtschaftsweisen. (Foto: Maurizio Gambarini/dpa)

Der Sachverständigenrat ist unzufrieden. Die Regierung tue zu wenig, um das Wachstum anzukurbeln. Die Ökonomen fordern ein höheres Renteneintrittsalter.

Von Cerstin Gammelin, Berlin

Die Lektüre der 509 Seiten zuzüglich Vorwort wird keine erfreuliche sein, darauf weist schon der Titel "Zeit für Reformen" hin. Der von der deutschen Bundesregierung eingesetzte "Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung", kurz die fünf Wirtschaftsweisen genannt, wird Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an diesem Mittwoch sein Jahresgutachten 2016/2017 übergeben. Es ist ein Gutachten, das sich so klar wie selten zuvor wie eine dringliche Handlungsaufforderung an die Bundesregierung liest.

Aus Sicht des Rates hat die Bundesregierung "die gute ökonomische Entwicklung der vergangenen Jahre nicht ausreichend für Reformen genutzt", schreiben die Autoren gleich am Anfang. Einige Maßnahmen wie die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns oder das Rentenpaket hätten darüber hinaus die Wettbewerbsfähigkeit geschwächt. Sie mahnen, die Wirtschaftspolitik künftig stärker "an der Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft" zu orientieren. Wie das gehen soll, ist auf vielen Seiten ausgeführt.

Anders als beispielsweise die Europäische Kommission oder der Internationale Währungsfonds halten die Wirtschaftsweisen (mehrheitlich, nicht einstimmig) es für falsch, mit zusätzlichen Staatsausgaben die Konjunktur weiter zu befördern. Die Vorgabe lautet ganz klar: keine neuen Schulden. Temporäre Haushaltsspielräume sollten nicht für neue strukturelle Ausgaben genutzt werden, öffentliche Investitionen müssten durch Einsparungen anderswo gegenfinanziert werden. Die Wirtschaftsweisen empfehlen steuerliche Anreize, um private Investitionen und Wertschöpfung zu stimulieren. Dazu sollen die Einkommensteuer und Unternehmensbesteuerung reformiert und die kalte Progression voll abgebaut werden. Letztere sorgt dafür, dass Lohnsteigerungen über Steuertarife aufgefressen werden.

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Um die Altersversorgung nachhaltig zu machen, fordern die Wirtschaftsweisen, das Renteneintrittsalter "an die fernere Lebenserwartung" zu koppeln. Zusätzlich sollten betriebliche und private Altersvorsorge attraktiver gemacht werden. Selbständige sollen verpflichtet werden, für das Alter vorzusorgen.

Reformiert werden soll der deutsche Dienstleistungssektor. Der freie Marktzugang zu den Dienstleistungsmärkten, insbesondere zu freien Berufen und Handwerk, könne den Wettbewerb stärken. Von der Begrenzung der Mietpreise halten die Sachverständigen nichts. "Die Mietpreisbremse sollte abgeschafft werden".

Die gute Konjunktur in Deutschland wird nach Ansicht der Sachverständigen weiter anhalten. In diesem Jahr könnte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) real um 1,9 Prozent wachsen, im kommenden Jahr um 1,3 Prozent. Sie weisen darauf hin, dass die deutsche Wirtschaft Gefahr läuft, überausgelastet zu sein. Die Kapazitätsauslastung im verarbeitenden Gewerbe oder die sehr gute Auslastung des Arbeitsmarktes deuteten darauf hin, "dass die gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten leicht überausgelastet sind".

Ratschläge auch für die EZB

Auch die Euro-Zone wird in den kommenden Jahren weiter moderat wachsen. Die Sachverständigen betonen die Außenhandelspolitik der Europäischen Union als "eine ureigene Gemeinschaftsaufgabe". Langfristig mehre Freihandel den Wohlstand, "protektionistische Tendenzen sollten abgewehrt" und Freihandelsabkommen mit Kanada (Ceta) und den USA (TTIP) abgeschlossen werden.

Der Sachverständigenrat spart auch für die unabhängige Europäische Zentralbank nicht mit Ratschlägen. Die Notenbank sollte bei ihren geldpolitischen Entscheidungen weniger volatile Preisindizes stärker berücksichtigen, etwa den BIP-Deflator oder die Kerninflation. Zudem sollte die Notenbank ihre Anleihekäufe verlangsamen und früher beenden. Beendet werden soll auch die Niedrigzinspolitik. Das niedrige Zinsniveau sei weder für die deutsche Volkswirtschaft noch für die Euro-Zone angemessen.

© SZ vom 02.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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