Konjunktur:Österreichs Wirtschaft - nicht mehr Vorreiter, sondern Schlusslicht

A concert ticket vendor dressed in a historic costume sits on a bench while making a phone call in Vienna, Austria

In den letzten Jahren sonnte sich Österreich in alten Erfolgen - jetzt will die Politik die versäumten Reformen anpacken.

(Foto: Heinz-Peter Bader/Reuters)
  • Noch vor zehn Jahren war Österreich ein wirtschaftliches Vorbild. Die Arbeitslosenzahlen waren niedrig, die Konjunktur war stark.
  • Heute sieht das ganz anders aus. Experten sind sich einig, dass das Land Reformen braucht. Aber wie sollen die aussehen?

Analyse von Andrea Rexer

Ein Revolutionär ist Christian Kern nicht. Davon träumte der neue österreichische Bundeskanzler nur in jungen Jahren. "Aber nachdem ich die Tagebücher von Che Guevara gelesen habe, fand ich das doch zu entbehrungsreich", sagte er in einem Interview. Und Entbehrungen, das will der Sozialdemokrat und Ex-Manager den Österreichern nun wirklich nicht zumuten. Ganz im Gegenteil: "Ich will, dass die Leute in diesem Land sicher sein können, dass es ihren Kindern besser geht als ihnen", sagte er in seiner ersten Rede als frisch vereidigter Kanzler. Seine Vision für das Land, sie ist vor allem eine wirtschaftliche Vision.

Noch 2005 hatte das Magazin Stern seine Coverstory über Österreich mit der Zeile "Das bessere Deutschland" überschrieben. Das Land sonnte sich im Erfolg. Die Arbeitslosenzahlen waren so niedrig wie nirgendwo sonst in Europa, Wien positionierte sich als Drehscheibe für Osteuropa und lockte so internationale Konzerne an.

"Osteuropa war unsere Wachstumsillusion", sagt Franz Schellhorn ernüchtert. Der Ökonom führt einen der einflussreichsten Think Tanks Österreichs. Vom einstigen Optimismus ist heute nichts mehr übrig geblieben. Das zeigt sich auch in den Zahlen: Nach Zahlen der EU-Kommission wuchs Österreichs Wirtschaft 2015 gerade mal um 0,7 Prozent. Nur Griechenland und Finnland schneiden noch schlechter ab. Österreich ist nicht mehr Vorreiter, sondern Schlusslicht.

Der neue Kanzler will das Land wirtschaftlich wieder nach vorn bringen

Dass die populistische Partei FPÖ bei den Präsidentschaftswahlen am Sonntag solch enormen Zulauf hatte, hat sehr viel mit der wirtschaftlichen Situation zu tun: Die Österreicher plagt die Abstiegsangst. Was ist schief gelaufen in den vergangenen zehn Jahren? Wie ist Österreich vom besseren zum schlechteren Deutschland geworden?

Ökonom Schellhorn blickt auf eine Grafik, die die Entwicklung des öffentlichen Schuldenstands zeigt. 2013 klaffen die Linien plötzlich auseinander: Österreichs Schulden steigen steil an, jene Deutschlands sinken stark ab. Ganz ähnlich bei der Arbeitslosigkeit: 2013 überkreuzen sich die Linien - die österreichische geht nach oben, die deutsche nach unten. Als Ursache könnte man die Finanzkrise vermuten und deren Folgen: die europäische Schuldenkrise und der Konjunktureinbruch in Osteuropa. Viele österreichische Investoren - und vor allem die Banken - haben sich dort blutige Nasen geholt. Die versprochenen Jobs in Österreich haben sich so auf Dauer nicht halten lassen.

Doch die eigentlichen Ursachen für die schlechte Entwicklung liegen tiefer, meint Margit Schratzenstaller. "Über Jahre hinweg hat die Politik große Reformen verschlafen", sagt die Konjunkturexpertin des österreichischen Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo). Das summiere sich auf. "Und irgendwann fällt es einem auf die Füße." Die Österreicher haben das Gefühl, dass nichts weiter geht in ihrem Land. Die große Pensionsreform? Nie umgesetzt. Die große Gesundheitsreform? Zum Reförmchen verkommen. Die Steuerreform? Ein Ärgernis für alle Seiten.

Kern kündigte schon einen "New Deal" an

Nun also soll der neue Bundeskanzler diese Lähmung aufheben. Christian Kern weiß, dass sein Schlüssel zum Erfolg in der wirtschaftlichen Lage liegt. Dort kennt er sich auch aus, schließlich war er bisher Vorstandschef der Österreichischen Bahn, zuvor arbeitete er für den Stromkonzern Verbund. Gleich in seiner ersten Rede kündigte er einen "New Deal" an - und meint damit ein umfassendes Programm, das die Wirtschaft ankurbeln soll.

Was genau er vorhat, ist noch unklar. Viel Zeit jedoch hat er nicht, die Reformen durchzusetzen. Denn für gewöhnlich packen Politiker unangenehme Dinge zu Beginn ihrer Legislaturperiode an. Kern jedoch fängt mit Verspätung an, weil er für den zurückgetretenen Kanzler Werner Faymann eingesprungen ist.

Welche Reformen angepackt werden müssen, darin sind sich die meisten Experten einig: das Bildungssystem und der Arbeitsmarkt stehen ganz oben auf der To-Do-Liste. Weitere Punkte sind eine Verschlankung der Verwaltung und Reformen im Gesundheitssystem. Doch spricht man mit den Experten darüber, mit welchen Maßnahmen das umgesetzt werden soll, zeigt sich die tiefe Gespaltenheit Österreichs. Am deutlichsten sieht man das am Arbeitsmarkt: Die einen wollen ein großes Infrastrukturpaket, um die Wirtschaft anzukurbeln und so Jobs zu schaffen, die anderen fordern Liberalisierungen, um verkrustete Strukturen aufzubrechen. Es ist keine leichte Aufgabe, diese Gräben zuzuschütten.

Nicht alle sind pessimistisch

Während sich die Lager streiten, bleiben die kleinen Unternehmen auf der Strecke - so zumindest empfindet es Stephan Mayer-Heinisch, der für den Verband der Einzelhändler spricht und jahrelang Geschäftsführer der großen Schuhkette Humanic war. "Wenn Sie in irgendeinem Dorf ein Schuhgeschäft eröffnen wollen, müssen sie 1209 arbeitsrechtliche Vorschriften einhalten", sagt er verärgert. "Bis hin zum Seifenspender auf den Toiletten, ist alles im Detail festgelegt." Und auch mit den Steuergesetzen halte die Politik die Unternehmen auf Trab: Mayer-Heinisch hat ausgerechnet, dass im Durchschnitt alle 14 Tage Änderungen im Steuerrecht umzusetzen sind. "Dieser Überregulierung muss Kern entgegenwirken", hofft er. Wie viele andere Unternehmer wünscht er sich flexiblere Arbeitszeiten, damit zumindest innerhalb einer Saison am Tag nicht nur acht, sondern auch mal zehn Stunden gearbeitet werden darf.

So kritisch die Stimmen auch sind, nicht alle blicken pessimistisch auf die Lage Österreichs. Markus Marterbauer etwa, Ökonom in der Arbeiterkammer, will sich dem Jammern nicht anschließen. "Österreich hat weniger ein Problem mit den Fakten, als eines mit der Stimmung." Die Arbeitslosenquote sei zwar gestiegen, aber nicht, weil es weniger Beschäftigung gebe, sondern weil über Jahre hinweg mehr Zuwanderer ins Land gekommen seien. Die wichtigste Aufgabe für den neuen Kanzler sieht er folgerichtig auch darin, die Stimmung zu drehen.

Bei der Wahl des Bundespräsidenten ist Kern das zumindest schon einmal gelungen: Viele Experten gehen davon aus, dass auch der Wechsel im Kanzleramt zum knappen Sieg des überparteilichen Kandidaten Alexander Van der Bellen beigetragen hat. Offenbar trauen die Menschen Kern einen Neuanfang zu.

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