Süddeutsche Zeitung

Konjunktur:Die große Angst

Rutscht Deutschland in eine Rezession? Anleger sind verschreckt und Ökonomen warnen. Im zweiten Quartal schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt.

Von Claus Hulverscheidt, Leon Kirschgens und Thomas Öchsner, New York/Frankfurt

Wenn Ökonomen warnen wollen, schildern sie gern die Zukunft in düsteren Farben, so auch in diesen Tagen. "Es liegen trübe Monaten vor uns, die drohen, Jahre zu werden, wenn die Politik nicht gegensteuert", sagte Joachim Lang, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). "Deutschlands Konjunktur steht auf der Kippe", warnte Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). "Aus dem einstigen Musterknaben ist ein Sorgenkind geworden", sagte der Chefvolkswirt des Bankhauses Lampe, Alexander Krüger.

Tatsächlich steht Europas größte Volkswirtschaft, wegen ihres Jobbooms lange als Musterland gepriesen, an der Schwelle zu einer Rezession. Das Statistische Bundesamt lieferte dafür nun neue Belege: Das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP), der Gradmesser für die wirtschaftliche Leistung einer Nation, schrumpfte im zweiten Quartal des Jahres um 0,1 Prozent im Vergleich zum Vorquartal (Grafik). Im ersten Quartal war die deutsche Wirtschaft noch um 0,4 Prozent gewachsen.

Im europäischen Vergleich ist Deutschland damit zum Schlusslicht geworden. Während die Wirtschaft hierzulande schwächelt, wuchs das BIP im Euroraum wie auch innerhalb der 28 EU-Länder um 0,2 Prozent - trotz der deutschen Flaute. Und es könnte bald noch schlimmer kommen: "Ein negatives drittes Quartal in Deutschland ist wahrscheinlich und damit eine zumindest leichte Rezession", sagte Dekabank-Chefvolkswirt Ulrich Kater.

Verbraucher werden beim Geldausgeben wieder vorsichtiger

Sinkt die Wirtschaftsleistung zwei Quartale in Folge, sprechen Ökonomen von einer "technischen Rezession". Gemeint ist damit eine sehr milde Form der Rezession. Anders sähe es aus, wenn die Wirtschaftsleistung im Gesamtjahr verglichen mit dem Vorjahr schrumpft. Daran glaubt derzeit jedoch niemand. Die Bundesregierung rechnet immer noch für 2019 mit einem Wirtschaftswachstum von 0,5 Prozent.

Trotzdem ist die Stimmung in der Industrie schon länger mies, vor allem in der Automobilindustrie. Der europäische Exportmeister leidet wie kein anderer in Europa unter dem Konflikt seiner wichtigen Handelspartner USA und China. Auch ein möglicher chaotischer Ausstieg Großbritanniens aus der EU, die Regierungskrise in Italien und die Sorge vor einem weltweiten Abschwung verschlechtern die Stimmung. Chinas Industrieproduktion wuchs zuletzt so langsam wie seit 17 Jahren nicht. All dies trägt dazu bei, die Nachfrage nach deutschen Investitionsgütern wie Fahrzeugen und Maschinen zu hemmen.

"Der deutsche Industriesektor bekommt es unmittelbar zu spüren, wenn die globale Investitionstätigkeit nachlässt", sagt Michael Grömling vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Deutschland befinde sich deshalb schon seit anderthalb Jahren in einer "industriellen Rückwärtsbewegung". Im Statistikamt in Wiesbaden heißt es deshalb: "Die außenwirtschaftliche Entwicklung bremste das Wachstum." Hinzu kommen interne Faktoren. Viele Projekte wurden wegen des milden Winters bereits von Januar bis März fertiggestellt. Die übliche Frühjahrsbelebung am Bau fiel diesmal aus. Auch die Zahl der Baugenehmigungen ging im ersten Halbjahr 2019 zurück. Wie in anderen Branchen fehlen im Baugewerbe Fachkräfte, um den potenziellen Aufträgen hinterherzukommen.

Vor allem die Verbraucher haben die Konjunktur in Deutschland bislang gestützt. In Zeiten niedriger Arbeitslosigkeit, steigender Löhne und Null- beziehungsweise Minizinsen sind die Menschen in Kauflaune. Doch zuletzt seien sie beim Geldausgeben vorsichtiger geworden, heißt es bei den Konsumforschern von der GfK. Häufen sich Meldungen über Jobabbau und Kurzarbeit, wächst die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes - man lässt das Geld lieber stecken. Beispiel Autos: Laut einer Umfrage der Tankstellenkette Aral unter 1000 repräsentativ ausgewählten Teilnehmern gaben nur 14 Prozent der Befragten an, sich in den kommenden 18 Monaten einen Neuwagen anschaffen zu wollen. 2017 waren es noch 25 Prozent.

Claus Michelsen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hält das deutsche Modell der Exportnation für risikoreich. Dies werde nun durch die Flaute bestätigt. "In Deutschland verhält es sich wie mit einem Bumerang: Negative Entwicklungen in der weltweiten Wirtschaftslage kommen sehr schnell zu uns zurück. Andersherum ist Deutschland einer der ersten Profiteure, wenn die globale Konjunktur beständig gut ist", sagt der Ökonom. Anfangs habe die stabile Binnenwirtschaft die negative Entwicklung bei den Exporten noch dämpfen können, auch dank hoher Einkommen und einer geringen Arbeitslosigkeit. Diese wichtige Stütze werde nun schwächer, dies mache sich in den BIP-Zahlen bemerkbar.

Die Angst vor einer Rezession verschreckt inzwischen weltweit Anleger. In Deutschland und Europa fielen die Aktienkurse am Donnerstag geringfügig, nachdem es am Vortag eine Verkaufswelle gegeben und der Deutsche Aktienindex (Dax) für die 30 wichtigsten deutschen Börsenunternehmen mehr als zwei Prozent nachgegeben hatte. Mehrere Unternehmen hatten zuvor ihre Gewinnprognose zum Teil deutlich gesenkt, darunter der Kohlenstoffspezialist SGL Carbon, dessen Aktienkurs um knapp ein Drittel sank - der größte Verlust seit 16 Jahren. Auch in den USA werden Anleger zunehmend nervös. Am Donnerstag schlossen die US-Börsen leicht im Plus, nachdem sie am Vortag so stark gefallen waren wie bislang an keinem Handelstag in diesem Jahr. Die Rendite der Staatsanleihen mit zwei Jahren Laufzeit war zuvor erstmals seit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 zeitweise höher als die der zehnjährigen Papiere. Händler gehen somit davon aus, dass die Zinsen auf mittlere Sicht sinken werden, weil die Konjunktur lahmt. Üblicherweise erhalten Kapitalanleger mit steigender Laufzeit einer Anleihe auch eine höhere Verzinsung. Ist das nicht so, kann dies der Vorbote einer Rezession sein.

Für Präsident Donald Trump war dies erneut ein Anlass, die US-Notenbank zu beschimpfen, die - so sieht es Trump - die Zinsen zu schnell erhöht hat. "Danke an den ahnungslosen Jay Powell und die Federal Reserve", ließ er den Notenbankchef über Twitter wissen. Dass sich die Konjunktur eintrübt, kommt für Trump im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl zur Unzeit. Die zumeist sehr gute Wirtschaftsentwicklung gehörte zu den wenigen Erfolgen, die Trump vorweisen kann.

Aktienexperten in den USA sehen jedoch keinen Grund zur Panik. Zinsen, die auf dem Kopf stehen, müssten ja nicht in eine Rezession münden. Und wenn dies passiere, dauere das meist ein bis zwei Jahre. In Deutschland werden zwar Forderungen lauter, dass der Staat mehr investieren solle, um die Wirtschaft zu stützen. Kanzlerin Angela Merkel will aber nichts überstürzen: Für ein Konjunkturpaket sieht sie "keine Notwendigkeit". Zugleich verspricht sie: Man werde "situationsgerecht agieren".

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Quelle:
SZ vom 16.08.2019
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