Wenn es so etwas gibt wie ein weltwirtschaftliches Sorgenkind, dann ist es derzeit ausgerechnet das Land, das mit seinen erfolgreichen Unternehmen, einem ausgeglichenen Haushalt und vergleichsweise stabilen politischen Verhältnissen jahrelang als eine Art internationales Vorzeigemodell galt: Deutschland. Dieser Eindruck zumindest drängt sich auf, wenn man den neuen Weltwirtschaftsausblick des Internationalen Währungsfonds (IWF) liest, der unmittelbar vor Beginn der Jahrestagung von IWF und Weltbank am Dienstag veröffentlicht wurde.
Demnach wird das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr in keinem Industriestaat so niedrig ausfallen wie in der Bundesrepublik - vom langjährigen Problemfall Italien einmal abgesehen. Die Schwäche der beiden europäischen Schwergewichte ist auch ein Grund dafür, dass das Konjunkturplus weltweit bei gerade einmal drei Prozent liegen dürfte, dem schlechtesten Wert seit der Weltwirtschaftskrise von vor zehn Jahren.
Internationaler Währungsfonds:Neue IWF-Chefin kritisiert USA, China und Deutschland
In ihrer ersten großen Rede als IWF-Chefin wird Kristalina Georgiewa gleich deutlich: Fast die ganze Welt steht vor einem Abschwung, sagt die Ökonomin.
Laut IWF wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland im laufenden Jahr um lediglich 0,5 Prozent zunehmen. Das wären noch einmal 0,2 Punkte weniger als bei der letzten Schätzung vor gerade einmal drei Monaten. Noch schärfer fällt die Korrektur für 2020 aus: Hier rechnet der Fonds statt mit 1,7 nur noch mit 1,2 Prozent. Die Veränderungen im Nachkommabereich wirken auf den ersten Blick vielleicht nicht so gravierend. Sie bedeuten aber, dass die gesamtwirtschaftliche Leistung etwa im kommenden Jahr um rund 18 Milliarden Euro geringer ausfallen wird als bisher erwartet. Das hat auch Auswirkungen auf die Steuererlöse von Bund, Ländern und Gemeinden, die Einnahmen der Sozialversicherungen sowie die Entwicklung der Löhne und Gehälter.
Die Prognosen des IWF für die übrigen Industrieländer haben sich gegenüber der Juli-Schätzung nur geringfügig geändert. Für die USA erwarten die Experten für 2019 ein Plus von 2,4, für 2020 dann von 2,1 Prozent. Das wäre zwar im Vergleich zu 2018 eine spürbare Abschwächung, bedeutete aber auch, dass den Vereinigten Staaten die vielfach befürchtete Rezession erspart bliebe. Das Wachstum der Euro-Zone dürfte mit 1,2 beziehungsweise 1,4 Prozent schwach bleiben, auch in China geht der Trend hin zu geringeren Zuwachsraten weiter: 2020 könnte das Plus mit 5,8 Prozent erstmals seit Jahren unter die Marke von sechs Prozent fallen. Stattdessen würde Indien mit einem Anstieg um sieben Prozent die Rolle der Konjunkturlokomotive unter den Schwellenländern übernehmen.
Die überaus schwache Entwicklung in der Bundesrepublik begründet der Währungsfonds mit einem Mix aus außenwirtschaftlichen Faktoren und hausgemachten Fehlern. Zu den Problemen, auf die Deutschland keinen oder kaum Einfluss hat, zählt der von US-Präsident Donald Trump angezettelte internationale Handelskonflikt. Er hat weltweit die Preise für viele Produkte und Komponenten nach oben getrieben, die Nachfrage aus Ländern wie China gedämpft und viele Kunden so verunsichert, dass diese sich mit Investitionen und Bestellungen zurückhalten. Das trifft exportlastige Branchen wie den Maschinenbau, in denen Deutschland sehr stark ist, besonders hart.
Hinzu kommt laut IWF ein Phänomen, das keinem Land so zu schaffen macht wie der Bundesrepublik: der Strukturwandel in der Autoindustrie. Hier spielen der Abgasskandal und auslaufende Steuervorteile für Pkw-Käufer in China ebenso eine Rolle wie die Schwierigkeiten der Hersteller, sich an neue Emissionsvorschriften anzupassen. Vor allem aber macht der Währungsfonds angesichts neuer Antriebstechniken, Abgasnormen und Car-Sharing-Möglichkeiten bei vielen Kunden eine "Erst-einmal-abwarten-Haltung" aus, die die Nachfrage belaste. Bereits 2018 waren die Autokäufe weltweit um drei Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken.
Scholz führt verlangsamtes Wachstum auf "menschgemachte Probleme" zurück
Um sich gegen den Abschwung zu wappnen, empfiehlt der IWF der Bundesregierung eine deutliche Erhöhung der öffentlichen Investitionen etwa in die Infrastruktur und die Bildung sowie eine Senkung der Lohnnebenkosten. "Das würde die Nachfrage ankurbeln, beim Abbau des übermäßigen Leistungsbilanzüberschusses helfen und das Wachstumspotenzial erhöhen", heißt es in dem Bericht. IWF-Chefvolkswirtin Gita Gopinath verweist zudem darauf, dass sich Staaten wie Deutschland und die Niederlande derzeit verschulden könnten, ohne auch nur einen einzigen Euro Zinsen zahlen zu müssen. Höhere Investitionen seien deshalb "schon aus einer reinen Kosten-Nutzen-Perspektive" sinnvoll.
Die Bundesregierung wird ihre Herbstprognose am Donnerstag veröffentlichen. Die Aussichten haben sich auch dort weiter eingetrübt: Die Wirtschaft verliere weltweit an Dynamik, das wirke sich natürlich auf die Konjunktur in Deutschland aus, verlautete am Dienstag aus dem Ministerium. Das habe mit Handelskonflikten zu tun und mit geopolitischen Krisen, wie jetzt mit der Türkei und Syrien. Scholz halte daran fest, dass das stark verlangsamte Wachstum auf "menschgemachte Probleme" zurückgehe, die durch "politisches Handeln wieder aufgelöst werden können". Die Bundesregierung geht davon aus, dass die deutsche Volkswirtschaft weiter wächst. Sollte es zu einer Krise kommen, sei Deutschland gewappnet: Das Bundesfinanzministerium verweist darauf, dass die gesamtstaatlichen Investitionen bereits auf Rekordniveau seien.
In dem IWF-Bericht wird jedoch mehrfach darauf verwiesen, dass die Wirtschaftsentwicklung auch noch deutlich schlechter ausfallen könnte als derzeit angenommen. Das wäre etwa dann der Fall, wenn sich der Handelskrieg zwischen den USA, China, Europa und anderen weiter zuspitzte, heißt es. Schon jetzt sei davon auszugehen, dass der Konflikt die Welt im kommenden Jahr rund 0,8 Prozent an Wirtschaftsleistung kosten könnte. Das entspräche einer Summe in der kaum vorstellbaren Größenordnung von rund 670 Milliarden Euro.
Die vielen selbst verschuldeten Schwierigkeiten sind aus Sicht des IWF auch deshalb so ärgerlich, weil die Welt genügend andere Probleme hat, mit denen sich die Regierungen eigentlich tagaus, tagein beschäftigen müssten. Dazu gehören etwa der Klimawandel, das geringe Produktivitätswachstum und - insbesondere in den Industrienationen - die Alterung der Gesellschaften. Alle drei Faktoren werden das Wirtschaftswachstum in den kommenden Jahren und Jahrzehnten spürbar dämpfen.