Süddeutsche Zeitung

Konjunktur:Was Deutschlands starke Wirtschaft gefährdet

Die Wirtschaft ist 2015 gewachsen, doch das wird nicht so weitergehen. Die Regierung muss ihre Bürger deshalb entlasten - anstatt nur von Kanzler Schröders Reformen zu zehren.

Kommentar von Alexander Hagelüken

Es wird nach solch einem Jahr manchen Bürger überraschen: Die deutsche Wirtschaft ist 2015 ordentlich gewachsen, stärker als seit Jahren. Das widerspricht der Intuition. Lässt doch der Rückblick erst mal das Belastende am inneren Auge vorbeiziehen: das Gewürge um Griechenland, die Rückkehr des Terrors, die kleinen und größeren internationalen Krisen. Eine Volkswirtschaft, die durch solche Stürme sicher navigiert, besitzt ganz offenbar eine gewisse Stabilität. Den Deutschen geht es gut. Sie verfügen über die Mittel, Menschen zu helfen, die in der Not zu ihnen flüchten.

Wer sich genauer anschaut, warum die Wirtschaft gewachsen ist, erkennt für die Zukunft aber auch Warnzeichen. Zum Teil erscheint der Aufschwung gedopt, wie es ein Verbandsfunktionär ausdrückt. Für mehr als ein Viertel davon ist nach manchen Schätzungen der niedrige Ölpreis verantwortlich. Das Öl und auch der Euro werden aber nicht auf Dauer billig bleiben. Die Muskeln, die sie derzeit der Konjunktur schwellen lassen, verschwinden wieder, vielleicht schon im Laufe des Jahres. Und dass die Europäische Zentralbank den Euro nach unten manipuliert, könnte einen Abwertungswettlauf befeuern, durch den am Ende alle Nationen verlieren.

Noch ernster ist das zweite Warnzeichen zu nehmen. Die deutsche Volkswirtschaft wuchs 2015 nicht wegen ihrer berühmten Exportstärke, sondern obwohl diese unter Druck geraten ist. Diese Belastung wird sich dieses Jahr fortsetzen, wenn nicht vergrößern. Der epochale Boom in China endet, andere Schwellenländer stecken in der Rezession. Russland und der Westen belauern sich wie lange nicht. In den USA, Asien und Europa artikuliert sich ein Nationalismus, der ökonomische Abschottung fordert - und fördert. Es wird keine einfache Zeit fürs internationale Geschäftemachen.

Im Grunde zehrt das Land noch von den Reformen Schröders

Damit jedoch scheint der Kern des deutschen Wirtschaftsmodells bedroht zu sein. Schon das Wachstum 2015 verdankt sich dem privaten Konsum. Der nimmt aber wieder ab, wenn demnächst steigende Preise die Realeinkommen verringern. Anders als es traditionell in Deutschland der Fall ist, sollte es die Regierung deshalb als zentrale Aufgabe erkennen, den Konsum zu stärken. Und dafür, nur ein Beispiel, breite Massen von Steuern und Sozialabgaben entlasten. Gibt es einen solchen Plan? Nein. Die Regierung kümmert sich stattdessen mit Verve darum, all diejenigen, die Betriebe und damit Millionen erben, von der Erbschaftsteuer zu verschonen.

Diese Zeit erzeugt den Bedarf nach Wirtschaftspolitik. Die Exporte stehen infrage, die Welt ist unruhig; jetzt wäre die Regierung gefordert, die Grundlagen für den Wohlstand ihrer Bürger zu verbessern. Die Bundesrepublik wird aber seit mehr als einer Dekade von einer Kanzlerin regiert, deren Verdienste im Krisenmanagement liegen - nicht in ökonomischen Impulsen. Was das betrifft, zehrt das Land noch von den Reformen der Ära Schröder.

Dabei gäbe es jede Menge Vorhaben, an die sich die Regierung machen könnte. Die Infrastruktur des Landes ist in einem schlechten Zustand, was Bürger wie Unternehmen gleichermaßen behindert. Die Digitalisierung erfordert eine ganz neue Qualifikation vieler Arbeitnehmer, die Wachstum schaffen könnte, wenn man sie denn angehen würde. Und dann ist da die Frage, wie sich die Flüchtlinge möglichst rasch ins Berufsleben integrieren lassen. Nationen wie die Vereinigten Staaten verdanken ihr Dynamik seit Langem auch der Zuwanderung. Das deutsche System ist dagegen traditionell darauf ausgerichtet, die Ankommenden eher vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. Diese Konstellation gehört von Grund auf geändert, und zwar in Kooperation mit den Firmen. Das ist die Aufgabe, auf die es nun ankommt.

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SZ vom 15.01.2016/hgn
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