Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass über Clearview so gut wie überhaupt nichts bekannt ist. Jenes Unternehmen, von dem es nun heißt, dass es die Privatsphäre, so wie wir sie kennen, beenden könnte, arbeitet selbst im Tarnkappen-Modus - was ja erst einmal so zwielichtig wirkt wie die Klebebänder über Kamera und Mikrofon auf dem Laptop von Mark Zuckerberg, Gründer des Daten-Staubsaugers Facebook. Eine SZ-Anfrage bei Clearview, wenigstens ein paar Zahlen und Fakten zu nennen, blieb unbeantwortet.
Was macht Clearview genau? Wer steckt dahinter? Wer sind die Investoren? Das sind Fragen, die sich viele Leute gerade stellen. Vielleicht auch deshalb, weil sie wegen des Kults um Firmengründer in der Technikbranche daran gewöhnt sind, die Personen im Hintergrund zu kennen. Nun sind sie verblüfft darüber, dass ein Unternehmen, das drei Milliarden Fotos aus frei zugänglichen Quellen per Algorithmus mit Gesichtern und Namen verbinden will, selbst kaum Namen nennen und Gesichter zeigen möchte. Wen immer man über Clearview befragt, die Antwort ist stets ein Schulterzucken.
Bei aller Aufregung: Es ist nicht ungewöhnlich, dass Start-ups zunächst ohne großes Aufsehen arbeiten. Gerade in der Technikbranche ist das, nun ja, Borgen von Ideen nicht ungewöhnlich, wie der Streit zwischen Zuckerberg und den Winkelvoss-Zwillingen oder die 245-Millionen-Dollar-Einigung zwischen dem Fahrdienstvermittler Uber und der Technikfirma Waymo wegen möglichen Datendiebstahls zeigt - oder auch das soziale Netzwerk Ocho mit Acht-Sekunden-Videos, das wegen Konkurrent Vine (Sechs-Sekunden-Videos) pleite ging. Vine gibt es übrigens auch nicht mehr, weil es nun Snapchat und Tiktok gibt. So schnell geht das.
Wer wissen will, was bei Clearview passiert, der sollte die Geschichte von Faraday Future anschauen
Wer sich das Silicon Valley als Ort vorstellt, an dem Ideen frei schwirren und kluge Leute ihre Visionen miteinander teilen, der irrt. Er herrscht Paranoia, weil pro Jahr mehrere Tausend Start-ups gegründet werden und laut Smallbiztrends 80 Prozent davon nach weniger als zwölf Monaten schon wieder aufhören. Aufmerksamkeit wollen solche Firmen nur, wenn die Zahl der Nutzer dringend wachsen muss oder der Börsengang bevorsteht.
Wer wissen will, was da bei Clearview passiert, der sollte die Geschichte eines anderen Unternehmen im Tarnkappen-Modus kennen: Mehrere Monate lang gab es 2015 Gerüchte um den Elektroautobauer Faraday Future, es gab eine Adresse und irgendwann Namen und Gesicht: Nick Sampson, auf dessen Visitenkarte "Gründer und Chefentwickler" stand, schwärmte größenwahnsinnig von einer neuen Spezies. Erst bei der Präsentation eines Konzeptautos Anfang 2016 zeigte sich der chinesische Milliardär Jia Yueting als Investor. Alles andere: streng geheim. Fragen wurden elegant umschifft, es gab nur den Hinweis, dass eine Revolution bevorstehe.
An diesem Punkt scheint sich Clearview zu befinden. Das Unternehmen hätte offenbar gerne weiterhin im sogenannten "Stealth Mode" verbracht, es gibt ja laut Recherchen der New York Times mehr als 600 höchst zufriedene Kunden, darunter die Bundesbehörde FBI und das US-Heimatschutzministerium DHS. Offenbar haben erst die Nachforschungen der Zeitung dafür gesorgt, dass es nun eine funktionierende Website (clearview.ai) gibt, die allerdings so aussieht, als hätte sie ein Zehnjähriger anhand von Tiktok-Videos zusammengebaut. Nach einer falschen Adresse (ein Tippfehler, wie es hieß) ist nun eine genannt, die tatsächlich existiert. Am Gebäude in der 220 W 29th Street dürften zahlreiche New-York-Touristen schon vorbeigelaufen sein, weil es zwischen Madison Square Garden und dem Fashion Institute of Technology liegt.
Der Gründer ist in der Tech-Welt bisher nicht aufgefallen
Und es gibt nun auch einen Namen und ein Gesicht: Hoan Ton-That, vor 31 Jahren in Australien geboren, die Vorfahren stammen aus Vietnam. Zum Gespräch mit der New York Times kam er im hellblauen Anzug und weißen Hemd, beim Fototermin zeigte er eine typische Start-up-Gründer-Pose: Kopf auf die linke Hand gestützt, gelangweilter Blick nach unten, auf dem Tisch steht ein Laptop mit Clearview-Logo - auf dem Foto ist nicht zu erkennen, ob Kamera und Mikrofon abgeklebt sind.
In der Technikwelt ist Ton-That bislang nicht aufgefallen - er hat sich nicht als Ingenieur bei einem Konzern wie Salesforce, Google oder Alpha-Sense hervorgetan, treibende Kräfte im Bereich Künstliche Intelligenz. Er hat 2009 eine Messaging-App entwickelt, die er nach Vorwürfen des Datenbetrugs eingestellt hat, und er hat 2015 ein Handyspiel entwickelt, bei dem die Nutzer die ulkige Frisur des damaligen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump auf andere Köpfe montieren konnten. Der zweite Firmengründer ist Richard Schwartz, 61, einst Mitarbeiter im Stab von Rudy Giuliani, als der noch Bürgermeister von New York war, und deshalb bestens vernetzt in der Metropole. Als Tech-Guru ist er bislang nicht aufgetreten.
Das freilich wirft eine Frage auf: Sind die beiden alleine für Clearview verantwortlich - oder gibt es da noch jemanden im Hintergrund, so wie den Investor von Faraday Future? Es gibt ein paar Investoren, bei denen die Branche aufhorcht, wenn sie genannt werden: Mary Meeker zum Beispiel, Marc Andreessen - oder Peter Thiel. Der soll bei Clearview involviert sein, eine Sprecherin verrät nur, dass er vor zwei Jahren lediglich einem jungen Firmengründer geholfen und sonst nichts mit der Firma zu tun habe. Thiel hat sich bislang nicht geäußert, auch der zweite bekannte Investor hält sich zurück: Kirenaga Partners ist eine eher mäßig bekannte Investmentfirma im Norden von New York, die gerne sehr früh in Firmen investiert - der Datenbank Crunchbase zufolge zuletzt jeweils zwei Millionen Dollar in die Photonik-Firma Violet Defense und das Clean-Tech-Unternehmen Ecospears.
Geheimhaltung allein ist freilich kein Beweis dafür, dass ein Unternehmen zwielichtig sein muss - Thiel zum Beispiel investierte in Facebook, als die Seite noch Thefacebook hieß und nur für Studenten amerikanischer Elite-Unis zugänglich war. Eine falsche Adresse, ein falscher Name für den Gründer ("John Good") auf dem Business-Portal Linkedin, der Hinweis, dass weniger als zehn Leute bei Clearview arbeiten würden sowie die Kommunikation über eine Krisenmanagerin - all das wirft aber Fragen auf, die Clearview beantworten muss. Bei Faraday Future begann der Absturz übrigens damit, dass sich die Manager nicht mehr vor Fragen drücken konnten und dann keine zufriedenstellenden Antworten lieferten.