Kann München pleitegehen? Deutschlands reichste, als Unternehmenssitz begehrte Stadt, die Boomtown, deren übliche Sorgen die meisten Städte im Land gern mit den eigenen tauschen würden? Aber genau so hat es 2002 der damalige Oberbürgermeister Christian Ude von der SPD gesagt: "München ist pleite." Ude war seinerzeit auch einer der führenden Köpfe des Deutschen Städtetages und besaß das für diesen ehrwürdigen Verband seltene Talent, sehr komplexe Probleme medienwirksam auf den Punkt zu bringen. Er eröffnete damit eine Grundsatzdebatte über die Not der Städte, ihre Randstellung im föderalen System und die Neigung der Politik, die Klagen aus den Rathäusern als wirtschafts- und investitionsfeindliches Lamento abzutun.
Kurz zuvor hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder, ebenfalls SPD, auf einer Jahreshauptversammlung des Städtetags die versammelten Oberbürgermeister mit dem Satz begrüßt, hier sei er ja "bei reichen Verwandten". In Ude & Co. fanden der Kanzler und sein Superminister Wolfgang Clement allerdings ihre Meister. Damals wollte die Bundesregierung die Gewerbesteuer de facto abschaffen, die von der Wirtschaft entrichtet wird und die mit Abstand wichtigste Einnahmequelle der Kommunen ist. Der Zeitgeist forderte "Abbau von Investitionshemmnissen", die Verlagerung der Steuerlast weg von den Unternehmen - aber wohin? Das konnte nie jemand plausibel erklären, außer: auf die Bewohner der Städte, die steuerzahlenden Bürger.
Am Ende sind diese Pläne am massiven Widerstand der Kommunalverbände gescheitert, die eine breite Front von Bundestagsabgeordneten auf ihre Seite zogen, schließlich hatten die meisten selbst in Stadt- und Gemeinderäten angefangen. Sogar ein Großteil der SPD-Fraktion bot der rot-grünen Regierung die Stirn und erklärte in der SZ, sie sei nicht gewählt, "um einfach die Hacken zusammenzuschlagen". Die Gewerbesteuer wurde gerettet und sogar ausgeweitet, die Grundlage für den Wiederaufschwung vieler Städte nach der kommunalen Krise der Nullerjahre.
Der Bundesfinanzminister fleht seine Kollegen an: "Bitte nehmt das Geld."
München, das nie pleite im Wortsinne war, ist es heute schon gar nicht mehr. Und doch sind viele Probleme dieses Grundsatzkonfliktes zwischen den Städten noch immer ungelöst, wie sich derzeit im Streit um jene Finanzhilfen für die Rathäuser zeigt, die von diesen nicht abgerufen werden und irgendwann wieder perdu sind. Bis zu fünf Milliarden Euro sollen es allein 2019 gewesen sein, eine Summe, hoch genug, um einen erheblichen Teil des verblüffenden Haushaltsüberschusses zu bilden, den Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) zu Jahresbeginn verkündete. Scholz selbst hatte schon im Herbst die Kommunen geradezu angefleht: "Bitte nehmt das Geld."
Die Wurzeln dieses bizarren Missstandes sind aber nicht, oder nur gelegentlich, darin zu finden, dass in den Rathäusern Inkompetenz und provinzielle Unbeweglichkeit herrschten. Dieser Vorwurf klingt ja indirekt aus all den Äußerungen heraus, die Städte nähmen das Geld ja gar nicht, nach dem sie immerzu schrien. Man stellt sich die Kämmerei dann als eine jener städtischen Amtsstuben vor, in denen handgemalte Schilder mit der Aufschrift "Hetzen Sie uns nicht. Wir sind hier bei der Arbeit und nicht auf der Flucht" ein sehr eigenes Verständnis von Bürgernähe zum Ausdruck bringen. Aber das ist ein Zerrbild.
Das Problem liegt darin, dass es niemals gelungen ist, eine massive strukturelle Benachteiligung der Kommunen im bundesdeutschen Föderalismus zu beseitigen. Keine Gemeindefinanzreform, keine Föderalismusreform hat daran Substanzielles geändert. Nach Bund und Ländern sind die Gemeinden die dritte Gebietskörperschaft - und die machtloseste, so stolz ihre Traditionen und Wappen auch sein mögen. Einstmals haben sie durch starke Mauern und Tore die Ansprüche der Landesherren draußen gehalten; nicht umsonst hieß es im späten Mittelalter: Stadtluft macht frei. Heute werden ihre Anliegen in den meisten wesentlichen Fragen durch die jeweiligen Länder vertreten, was sie oft zu deren Mündeln macht. Man hört sie inzwischen an, aber wirklich mitbestimmen dürfen sie nicht, auch dann nicht, wenn ihre ureigenen Anliegen betroffen sind.
Kommt eine Kommune finanziell nicht klar, verhängt die Kommunalaufsicht strenge Auflagen. Die Stadt darf dann nur noch das Nötigste ausgeben, muss an allen Enden sparen, um das Ziel des ausgeglichenen Haushaltes vielleicht trotzdem zu verpassen; gleichzeitig wird sie für ihre Bürger oder neue Investoren immer unattraktiver; ja, sogar für ihre örtlichen Unternehmen, die vor allem in den klammsten Kommunen die höchsten Gewerbesteuersätze zahlen.
So ist der Hauptgrund für all das verfallene Fördergeld, das nun niemals in Klimaschutz, Projekte der sozialen Stadt oder die Infrastruktur fließen wird, der Personalmangel. Die Bearbeitung ist so zeitaufwendig und komplex, dass die Baureferate vielerorts schlicht nicht mehr nachkommen. Das liegt aber eher nicht daran, dass die Stadt ihr Personaltableau dämlich geplant hat, sondern sie wurde zur Zeit des Streits um die Gemeindefinanzen vom jeweiligen Land dazu gezwungen: Personalabbau spart Geld. Der Wiederaufbau dagegen ist umständlich und langwierig.
Und der Wirtschaftsboom, von dem die Kommunen eigentlich stark profitieren, führt paradoxerweise dazu, dass es für Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt attraktivere und deutlich besser entlohnte Angebote als eine Stelle auf dem Amt gibt. Dort wiederum gilt öffentliches Tarifrecht, was den Spielraum des Arbeitgebers Stadt klein hält.
Anders als vor 20 oder 15 Jahren geht es der Mehrzahl der Städte heute wieder gut, manchen blendend. Abgehängt bleibt ein urbanes Prekariat außerhalb der Boomregionen, im alten Westen an der Ruhr, auf dem weiten Land im Osten. München kann es sich leisten, die Lokalbaukommission in die Vororte zu entsenden, um zu prüfen, ob der Dachausbau des Anliegers A nicht ein paar Prozent zu hoch ausgefallen ist oder der Neubau des Nachbarn B nicht gar zu gewagt. Anderswo fehlt Personal. Inzwischen beziffert die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) den Investitionsstau der Kommunen auf atemberaubende 138 Milliarden Euro, Extrawünsche wie Superspaßbäder keinesfalls mitgerechnet.
Hinzu kommt erschwerend: All die Gesetze und Vorschriften, die sich Bund und Länder für sie einfallen lassen, haben die Städte umzusetzen. Ja, sie selber sind auch erfinderisch im Schaffen von Paragrafen, wie jeder weiß, der hören muss, seine Stadtverwaltung werde "für Sie" mit einer neuen elektronischen Terminverwaltung ausgerüstet. Aber wichtigere Dinge wie die Ausschreibung öffentlicher Aufträge sind inzwischen auch durch den Gesetzgeber zu bürokratischen Ungeheuern mutiert. Und jetzt, da die Auftragsbücher des Handwerks und der Bauunternehmer übervoll sind, sinkt der Reiz sehr deutlich, für die öffentliche Hand tätig zu werden.
Benachteiligt sind die Kommunen auch und gerade bei der Verteilung des Geldes, vor allem durch die Länder, die immer Wege fanden und finden, erhebliche Summen für sich abzuzweigen. Der kommunale Finanzausgleich ist inzwischen trotz aller Reformversuche nur noch für Finanzexperten halbwegs durchschaubar; Kanzler Schröder hatte damals zu Recht geunkt: "Jene, die den Finanzausgleich verstehen, können ihn nicht erklären; und die, die ihn erklären, verstehen ihn nicht." Eine Schwäche des Durchreichens von Mitteln von oben nach unten war lange Zeit das sprichwörtliche Gießkannenprinzip. Bürokratische Hürden und der Wunsch, Finanzhilfen möglichst gleich an alle zu verteilen, die danach rufen - also an alle -, sorgten dafür, dass das Geld nur tröpfchenweise jene erreichte, die es am dringendsten brauchten. Oft fehlten ihnen sogar ein paar Tausend Euro für vorgeschriebene Eigenanteile, dann hatten sie eben Pech.
Jammernd wurde der neoliberale Zeitgeist vom Sturm der Finanzkrise fortgeweht
Die gute Nachricht gibt es aber auch. So wirkmächtig all diese Fehlentwicklungen noch immer sind, die Versuche mehren sich, energisch gegenzusteuern. Seit Anfang des Jahres 2020 gibt es zum Beispiel nicht mehr, tatsächlich, ganze 22 Förderprogramme aus sechs Bundesministerien für strukturschwache Regionen, das Geld wird neuerdings gezielt und gebündelt eingesetzt, wie es der Deutsche Städtetag seit Jahren gefordert hatte.
In der großen Politik wächst, sehr spät, aber nicht zu spät, die Einsicht, dass es die Städte und Gemeinden sind, wo der Bürger die Demokratie und auch ihre Probleme unmittelbar erfährt. Je undurchsichtiger und erfolgloser Versuche bleiben, gegen diese Probleme anzugehen, desto mehr wird der ohnehin viel zu verbreitete Verdruss an dieser Demokratie wachsen - die Behauptung, oder das Gefühl, vieler Ostdeutscher bei den jüngsten Landtagswahlen, sie seien "abgehängt", ist nur ein schrilles Warnzeichen von vielen. Anerkennend erklärte vor wenigen Tagen Städtetags-Vizepräsident Ulf Kämpfer über das neue Fördersystem für strukturschwache Regionen, künftig kämen "die Hilfen da an, wo sie besonders gebraucht werden". Die Förderung "nach Himmelsrichtung gehört somit 30 Jahre nach dem Mauerfall endgültig in die Geschichtsbücher".
Allerdings reichen die zugesagten 300 Millionen Euro den Kommunen nicht - sie fordern mindestens die doppelte Summe. Ob sie die je erhalten werden, steht in den Sternen, und die Sterne geben keine Antwort. Mehr als bitten können die Gemeinden nicht. Dabei ist ihre Rolle, eigentlich, anerkannter denn je, seit der neoliberale Zeitgeist jammernd vom Sturm der Finanzkrise fortgeweht wurde. Heute ist das Bewusstsein dafür weit größer, wie sinnvoll es ist, wenn Städte ihre Wohnungen und Stadtwerke nicht an den Meistbietenden verscherbeln; wie wichtig es sein wird, sie zu Vorreitern des Klimaschutzes zu machen; sie ausreichend auszustatten, damit sie die täglichen Probleme der Integration angehen und lösen können. Am sinnvollsten wäre eigentlich, ihre verfassungsgemäßen Rechte auszubauen und sie auf Augenhöhe mit Bund und Ländern zu heben. Aber das ist Träumerei. Einstweilen müssen die Kommunen die Dinge nehmen, wie sie sind. Und solange das so ist, werden sie aus guten Gründen nach mehr Geld, mehr Rechten, mehr Mitbestimmung rufen. In manchen Rathäusern geht ein hübsches, ursprünglich auf den Beruf des Kaufmanns gemünztes Bonmot um: Die Klage ist der Gruß des Kämmerers.