Kommentar:Wie die Lemminge

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An dieser Stelle schreiben jeden Mittwoch Marc Beise (München), Malte Conradi (San Francisco), Alexandra Föderl-Schmid (Tel Aviv) und Christoph Giesen (Peking) im Wechsel. (Foto: N/A)

Kollektiv in den Abgrund, diese Vorliebe sagt man den Lemmingen nach. Ist zwar falsch, findet aber beim Menschen dennoch seine Parallele. Zum Beispiel, wenn es um den Brexit und die deutsche Konjunktur geht.

Von Marc Beise

Die putzigen Tierchen gibt es ja tatsächlich. Als sibirische Lemminge aus der Unterfamilie der Wühlmäuse sind sie in den arktischen Tundren unterwegs. Weil sie sich bei regionaler Überbevölkerung gelegentlich in großer Zahl auf lange Wanderungen zu neuen Lebensräumen machen, was viele nicht überleben, verbindet sich mit ihrem Namen bis heute die Theorie des Massenselbstmordes. Das ist zwar weder wissenschaftlich belegt noch in seiner theatralischen Zuspitzung des kollektiven Sprungs von der Klippe ins Meer jemals beobachtet worden, doch würde das Bild heute recht gut passen. Denn in Deutschland und der Welt kommt negative Stimmung mit einer Wucht auf, die man getrost irrational nennen darf.

Es gibt Gründe dafür, ja: In Washington treibt Donald Trump sein Unwesen, der Handelsstreit mit China könnte eskalieren, und Europa quält sich mit dem Brexit. So weit plausibel, aber nichts von alledem ist in seinen Konsequenzen heute bereits zuverlässig einzuordnen; es ist ja nicht einmal sicher, dass eintritt, was viele befürchten. Aber dass alles ganz schlimm wird, davon sind immer mehr Menschen immer heftiger überzeugt.

Wirtschaft sei zu 50 Prozent Psychologie, soll Ludwig Erhard gesagt haben. Auch das ist nicht wirklich belegt, könnte aber stimmen. Dann allerdings gäbe es kaum noch Chancen, den "Abschwung" aufzuhalten, den jetzt selbst so besonnene Menschen wie der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest, ausrufen. Er stand am Freitag unter dem Eindruck des Konjunkturbarometers seines Instituts, mit dem dieses monatlich in die Wirtschaft hineinfragt. Die Stimmung in den Chefetagen sinkt von Mal zu Mal und ist jetzt so schlecht wie seit fast drei Jahren nicht mehr. Besonders eindrücklich: Beim Verhältnis von optimistischen und pessimistischen Einschätzungen hatten mehr als sieben Jahre lang die Optimisten die Oberhand, jetzt überwiegt zum ersten Mal seit Dezember 2012 die Zahl der Pessimisten.

Natürlich haben - kein Wunder - die Konjunkturforscher, weitere Institutionen wie der Internationale Währungsfonds und laut Insidern auch die Bundesregierung ihre Erwartungen an das Wirtschaftswachstum 2019 zurückgenommen, von fast zwei auf etwas über ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Auch das wäre, nur mal eben erwähnt, nach einem fast zehnjährigen Aufschwung keine ganz schlechte Perspektive, erst recht nicht, wenn es 2020 wieder kräftiger aufwärts gehen sollte - und für einen nur kurzen Dip gibt es gute Gründe.

Die Struktur der deutschen Wirtschaft ist einerseits stabil, andererseits wissen auch die Politiker um den Ernst der Lage, und sie haben noch die Möglichkeit gegenzusteuern. Politik ist bekanntlich schlecht darin, weit vorausschauende und schmerzhafte Reformen zu beschließen - aber sie ist geübt im Kompromisseschließen. Und genau darum geht es in allen erwähnten Fällen: um Kompromisse.

Es ist deshalb gut, wenn einflussreiche Konzernlenker, die Entscheidungen über Milliardeninvestitionen und über Zehntausende von Arbeitsplätzen fällen können, Politikern ihre Verantwortung vor Augen führen. So wie das gerade Airbus-Chef Tom Enders gemacht hat, der in einem Video mit drastischen Worten die Briten vor Brexit-Verrücktheiten gewarnt und vor allem die weiterhin völlig unklare Lage beklagt hat: Diese Fahrlässigkeit ist in der Tat eine "Schande". Aber die Folgen, das wird immer deutlicher, müssten vor allem die Briten selbst tragen, bitter genug, während Europa vielleicht sogar profitiert.

Hierzulande dennoch alles schlechtzureden, ist garantiert der beste Weg, die Katastrophe überhaupt erst heraufzubeschwören, vor der man eigentlich warnen will.

© SZ vom 26.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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