Kommentar:Testfall Chemie

Geht es gegen Brüssel, fühlt sich der Kanzler stets zu harscher Wortwahl animiert. Gerhard Schröder fürchtet die "Deindustrialisierung" Europas, falls sich die EU-Kommission mit ihren Chemikalienplänen durchsetzt.

Von Alexander Hagelüken

(SZ vom 30.10.03) — Jacques Chirac und Tony Blair unterstützen ihn. Wenn sich Regierungschefs so grundsätzlich gegen ein Umweltprojekt wenden, fällt oft schnell das Urteil: Diese Politiker sind Büttel der Konzerne, denen ist die Gesundheit der Bürger egal. Doch so einfach liegt der Fall diesmal nicht. Schröder und Kollegen erklären die Chemie-Verordnung zum Testfall für die Industriepolitik. Sie haben Recht.

Gut gemeinte Überregulierung

In diesem Sektor behaupten sich die Europäer noch gegen die weltweite Konkurrenz. Schon wegen der Konjunkturkrise dürfen die Regierungschefs nicht riskieren, dass ihre Chemiefirmen und Weiterverarbeiter wie die Autohersteller im globalen Wettbewerb entscheidend behindert werden. Die Branche leidet bereits unter gut gemeinter Überregulierung.

Das heutige EU-Zulassungsverfahren für neue Stoffe hemmt Innovationen. Amerikanische Konzerne haben seit den achtziger Jahren zehn Mal so viele Chemikalien entwickelt wie die Europäer. Weil sich Neuentwicklung kaum lohnt, konzentrieren sich EU-Firmen auf alte Stoffe. Natürlich sind sie skeptisch, wenn Brüssel diese auch noch kontrollieren will.

Trotzdem ist eine neue Verordnung notwendig. Und zwar schon, um die bestehenden Hürden für Innovationen zu beseitigen. Auch sollte niemand Umweltkommissarin Wallström das Recht absprechen, die Gesundheitsrisiken krebserregender und anderer hochgefährlicher Stoffe so weit wie möglich zu mindern. Die Chemiebranche hat Kredit verspielt, als sie übertriebene Szenarien über die wirtschaftlichen Konsequenzen publizierte.

Brüsseler Versprechungen

Wenn die Mitgliedsstaaten nun über die Verordnung verhandeln, sollten sie aber auch die Brüsseler Versprechungen kritisch betrachten. So rühmen sich die zuständigen Kommissare, die Kosten für die Industrie im Vergleich zum ersten Entwurf von zwölf auf zwei Milliarden Euro zu reduzieren.

Ein solcher Sprung binnen weniger Wochen provoziert Fragen: Warum war der erste Entwurf überhaupt so teuer? Und wie viel billiger könnte es für die Industrie noch werden?

Im Grundsatz geht es darum, nötigen Umweltschutz mit den niedrigsten ökonomischen Kosten zu realisieren. Ideologische Gräben zwischen Umweltlobby und Firmen verhindern zu oft pragmatische Lösungen. Das Ergebnis ist zu viel Bürokratie. Dies sollte der Kanzler der viertgrößten deutschen Industriebranche diesmal ersparen.

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