Süddeutsche Zeitung

Elektronische Patientendaten:Speichern ist besser

Spähskandale haben das Vertrauen in sichere Daten erschüttert - und damit in die Telemedizin. Doch der Nutzen überwiegt das Risiko: Im Falle der Gesundheit kann es um alles oder nichts gehen.

Kommentar von Kim Björn Becker

Gesellschaftliche Utopien haben den Menschen schon immer fasziniert. Im Gesundheitswesen sieht das gegenwärtig propagierte Bild der Zukunft in etwa so aus: Alle wichtigen medizinischen Daten eines Patienten werden gesammelt und digital an einem Ort aufbewahrt, stets erreichbar durch das Auslesen der Versicherungskarte. Die Wurzelbehandlung beim Zahnarzt wird genauso dokumentiert wie die Röntgenbilder nach einer Kniegelenksoperation. Jedes Medikament, das jemals verschrieben wurde, befindet sich in den Akten. Gab es mal starke Nebenwirkungen? Auch diese Information liegt vor. In Notfällen gibt die Versichertenkarte den Rettungsmedizinern zudem wichtige Informationen: Welche Blutgruppe hat der Verunfallte, reagiert er auf bestimmte Wirkstoffe allergisch, gibt es sonst etwas zu beachten? Wenn es um jede Minute geht, kann der rasche Zugriff auf diese Daten Leben retten. Und es geht noch weiter: Im ländlichen Raum könnten Patienten bald schon weitaus besser fachärztlich versorgt werden. Denn die Computertomografie wird irgendwo in der Provinz gemacht, die Auswertung der Bilder übernimmt ein Experte an einer weit entfernten Uniklinik.

Es sind Szenarien wie diese, mit denen Gesundheitspolitiker der Koalition derzeit für die Digitalisierung der Medizin trommeln. Am Mittwoch hat das Bundeskabinett den Entwurf eines sogenanntes E-Health-Gesetzes beschlossen, der zuständige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) nannte den erwarteten Nutzen durch die Digitalisierung "enorm". Damit hat er zunächst einmal recht. Tatsache ist, dass gerade in der Notfallmedizin dringend benötigtes Detailwissen oft nicht vorhanden ist. Wird ein Patient bewusstlos eingeliefert, kann man ihn schlecht nach Allergien fragen. Und wer trägt schon ständig einen Notfallpass aus Papier mit sich herum, in dem etwa die Blutgruppe vermerkt ist? Auch für jene, die fernab einer großen Klinik wohnen, würde die Digitalisierung der Krankenakte Vorteile bringen. Tagestouren in Unikliniken, wie sie etwa in der Krebstherapie zu Kontrollzwecken oft nötig werden, würden dann entfallen. Komplizierte Befunde könnten von mehreren Ärzten per Videokonferenz besprochen werden. In einer Gesellschaft, die immer älter wird, wiegt dieser Vorteil gleich doppelt.

Patienten machen nur mit, wenn sie dem System vertrauen

Die Utopie einer digitalen und somit weitgehend entgrenzten Hochleistungsmedizin wird sich so bald allerdings wohl nicht verwirklichen. Denn die Hinterlegung von Notfall-Informationen, eine nun im E-Health-Gesetz angekündigte neue Kernleistung der Gesundheitskarte, ist freiwillig. Die Versicherten können sie in Anspruch nehmen, sie müssen es aber nicht. Die Menschen werden die neuen Möglichkeiten aber nur annehmen, wenn sie dem System vertrauen, etwa dass ihre Daten tatsächlich vor fremden Blicken geschützt sind. Und dass das Arztgeheimnis auch weiterhin gilt.

Doch das Vertrauen ist zur Zeit beschädigt, und das aus gutem Grund: Die Späh-Affären der vergangenen Jahre und die jüngsten Hackerangriffe haben eine Gesellschaft hinterlassen, die in Datenschutzfragen auf Jahre hin als erschüttert gelten kann. Wer nicht einmal mehr seine Urlaubsbilder ins Netz hochladen will aus Angst, sie können einem Geheimdienst in die Hände fallen, soll also damit einverstanden sein, wenn seine Leberwerte und Operationsberichte digital gespeichert werden? Natürlich kündigt der Gesundheitsminister an, alles zu unternehmen, um die Sicherheit in der Telemedizin zu gewährleisten. Man kann davon ausgehen, dass er das auch ernst meint. Doch das kann das verloren gegangene Vertrauen der Bürger nicht zurückbringen. Genauso wie es keine Garantie geben kann, dass das neue Datennetz gegen jeden Angriff immun sein wird. Die Telemedizin kommt zu einem Zeitpunkt, da viele Menschen zutiefst verunsichert sind.

Es steht daher zu befürchten, dass sich viele Menschen zunächst einmal gegen die Telemedizin entscheiden werden. Dies wird vor allem die Älteren betreffen, die von den Vorteilen durch eine digitale Dokumentation der Therapie gewiss am meisten profitieren würden. Doch auch für alle anderen gilt: Im Zweifel überwiegt der erwartete Nutzen der Telemedizin das mögliche Risiko. Wer sich aus Verunsicherung heraus bei Facebook abmeldet, verpasst vielleicht etwas; wer seinen Online-Banking-Zugang abschaltet, will sein Vermögen absichern. Gut und schön. Doch in medizinischen Fragen geht es bisweilen um alles oder nichts. Wenn die Bürger die Telemedizin dauerhaft ablehnen, weil sie das Vertrauen verloren haben, dass ihre Daten geschützt bleiben, dann wäre das nicht bloß unglücklich. Es wäre geradezu tragisch.

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SZ vom 28.05.2015/kabr
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