Kommentar:Sonnenkönig bei Linde

Wolfgang Reitzle ist heute Chefaufseher beim Münchner Industriekonzern Linde. Doch inzwischen regiert er durch, am Vorstand vorbei. Sein untadeliger Ruf ist in Gefahr.

Von Karl-Heinz Büschemann

Wolfgang Reitzle hat in der deutschen Wirtschaft einen bislang untadeligen Ruf. Mit nicht einmal 40 Jahren saß der Ingenieur schon im Vorstand von BMW. Er war mit so viel Ehrgeiz ausgestattet, dass er den Autokonzern selbstbewusst verließ, nachdem er zweimal als Unternehmenschef nicht zum Zuge gekommen war. Er hat von 2003 bis 2014 als Vorstandschef den verschlafenen Münchner Industriekonzern Linde aufgeweckt, ihn zum Weltmarktführer und Börsenliebling gemacht. Nebenbei sorgte er als Aufsichtsratschef dafür, dass der Autozulieferer Continental in die Weltliga aufstieg. Er war im Gespräch als Aufsichtsratschef bei Siemens und VW. Beiden Unternehmen hätte dieser Manager gutgetan. Doch nun ist der 67-Jährige mit der strengen Autorität dabei, seinen Ruf zu zerstören.

Die Vorgänge in München sind auch ein Rückschlag für die Führungskultur in Konzernen

Zwei Jahre nach seinem Ausscheiden als Linde-Vorstandschef ist Reitzle im Mai an seine alte Wirkungsstätte zurückgekehrt: als Chef des Aufsichtsrates. Obwohl er die vorgeschriebene zweijährige Wartefrist für den Einzug von Vorständen in den Aufsichtsrat einhielt, ist dieses Experiment nicht gut gelaufen. Reitzles Bilanz als Chefkontroller bei Linde hat bereits hässliche Flecken.

Seit er im Frühjahr zurückkehrte, haben drei Vorstände das Unternehmen verlassen, darunter Vorstandschef Wolfgang Büchele. Für keinen hat Reitzle bisher Ersatz. Diesen Kunstfehler muss er sich ankreiden lassen. Ein Aufsichtsratschef hat vor allem für die richtigen Personen im Vorstand zu sorgen. Es kam noch peinlicher: Um die geplante Fusion von Linde mit dem amerikanischen Konkurrenten Praxair zu retten, nach deren Platzen Vorstandschef Büchele und Finanzvorstand Georg Denoke gehen mussten, holte Reitzle vor wenigen Tagen einen Manager zurück, der vor zwei Jahren aus Altersgründen aus dem Linde-Vorstand ausgeschieden war. Reitzle hatte offenbar keinen anderen Kandidaten als den alten Wegbegleiter, der ihm kaum Widerstand entgegensetzen wird. Jetzt führen zwei Manager im Rentenalter den Konzern durch diese schwere Zeit.

Reitzle, der mit einer großen Portion Eitelkeit ausgestattet ist, die ihm seine Kritiker lange verziehen, hatte sich schon in seiner Chefzeit zum faktischen Alleinherrscher von Linde gemacht. Als Aufsichtsratschef entwickelt er sich nun zu einem Sonnenkönig, der den Konzern nun eben aus dem Aufsichtsrat führt, statt das Tagesgeschäft dem zuständen Vorstand zu überlassen.

Reitzle hebelt bei Linde gerade die Prinzipien guter Unternehmensführung aus, indem er die vom Aktiengesetz vorgeschriebene Aufgabentrennung von Vorstand und Aufsichtsrat faktisch aufhebt und dafür sorgt, dass es eine unabhängige Kontrolle der Macht im Unternehmen kaum noch gibt. Deshalb sind die Vorgänge auch ein Rückschlag für die gesamte Führungskultur in deutschen Konzernen, die sich erst in den vergangenen 15 Jahren von den unguten Bräuchen der bundesrepublikanischen Deutschland AG verabschiedet hat, in der machtbewusste Männer ganze Konzerne mit der Wucht ihrer Persönlichkeiten kapern und ins Abseits führen konnten.

Thyssen-Krupp oder Volkswagen sind Beispiele dafür, wohin es führt, wenn Unternehmen von Patriarchen geführt werden, die nur ihre eigenen Maßstäbe kennen und die Forderung von Kontrolle und Transparenz der Abläufe für theoretisches Gefasel von BWL-Professoren und Unternehmensberatern halten.

Das Verhalten Reitzles wirft aber auch ein merkwürdiges Licht auf den restlichen Aufsichtsrat von Linde, in dem mit Michael Diekmann, dem früheren Chef der Allianz, und dem ehemaligen Bosch-Geschäftsführer Franz Fehrenbach zwei erfahrene Ex-Konzern-Lenker sitzen, die einen guten Ruf als Unternehmensstrategen zu verlieren haben. Auch sie müssen ein Interesse daran haben, Linde wieder ins richtige Gleis zu bringen.

Klare Strukturen in den Führungsetagen sind nicht einfach ein schönes theoretisches Konzept. Mit dem deutschen Governance-Kodex, der seit dem Anfang dieses Jahrhunderts klare Regeln für gute Unternehmensführung setzt und zur Verbesserung der Managementkultur in deutschen Chefetagen beigetragen hat, ist die deutsche Wirtschaft erwachsener geworden. Die Aktionäre können jetzt die Vorgänge in der Führung besser beurteilen.

Was gerade bei Linde abläuft, taugt daher nicht zum Vorbild. Reitzle hat bei Linde keine leichte Aufgabe. Aber in der Vergangenheit hat er gern gezeigt, dass er zu harten Entscheidungen fähig ist. Er muss sich an diese Fähigkeiten erinnern. Sonst sind sein Ruf und das Ansehen von Linde bald dahin.

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