Kommentar:Sehr rational

Seit Wochen steigen die Kurse. Wie kann das sein, dass überall Weltuntergangsstimmung herrscht, bei den Börsianern aber Rekordstimmung? Ganz einfach: Die globale wirtschaftliche Lage ist nicht so schlecht, wie man meinen könnte.

Von Harald Freiberger

Das Jahr 2016 war, wirtschaftlich gesehen, bisher ein sehr schwieriges, voller Risiken und Abstürze, voller Bedrohungen und Ängste. Gleich zu Jahresbeginn ließ die Sorge vor einem Wachstumseinbruch in China die Börsen weltweit abstürzen. Es folgten Terroranschläge, der Brexit, der Putsch in der Türkei - Ereignisse, die zutiefst verunsichern. Gefühlt wandelt die Menschheit am Rande des Abgrunds und die Weltwirtschaft am Rande der Rezession.

Die Börsen aber signalisieren das Gegenteil: Seit Wochen steigen die Kurse. Deutsche Aktien sind auf bestem Wege, den höchsten Stand aller Zeiten zu erreichen, in den USA ist dies bereits der Fall. Wie kann das sein, dass überall Weltuntergangsstimmung herrscht, bei den Börsianern aber Rekordstimmung? Ist dies der endgültige Beleg für die Irrationalität der Finanzmärkte?

Nein, denn die Sommer-Rally hat einen sehr rationalen Hintergrund: Die Lage der Weltwirtschaft ist nicht schlecht. Erfahrungsgemäß läuft die Entwicklung an den Börsen jener der realen Wirtschaft um ein halbes Jahr voraus. Dies scheint auch diesmal der Fall zu sein.

Die Bundesregierung sollte ein Investitionsprogramm starten

Natürlich ist der Hauptgrund für den Aktienboom auch in diesen Wochen die Politik des billigen Geldes. Die Notenbanken haben sie angesichts der Bedrohungen in diesem Jahr noch ausgeweitet, zuletzt ist auch die Bank of England darauf eingeschwenkt. Solange die Zentralbanken die Finanzmärkte mit Geld überschwemmen und die Zinsen bei null halten, können die Aktienkurse kaum fallen, weil es wenige Anlage-Alternativen gibt.

Doch die Geldpolitik ist nicht der alleinige Grund für die gute Stimmung an den Börsen. Es gibt auch eine "fundamentale" Ursache dafür, wie Ökonomen das nennen. Gemeint ist die Lage der Weltwirtschaft allgemein und die der Unternehmen im Besonderen. Sie ist nämlich bei Weitem nicht so schlecht, wie man meinen könnte, wenn man die Nachrichten hört. Während an den Brennpunkten der Welt eine negative Meldung auf die nächste folgt, wächst die Wirtschaft fast heimlich, still und leise, aber nicht unbedeutend weiter. Das weltweite Wachstum für 2016 schätzen die Experten auf mehr als zwei Prozent. Das ist zwar kein Boom, aber doch eine gesunde Basis. Es verdichten sich zudem die Anzeichen, dass es in China zu keinem Einbruch kommt.

Die Bundesbank berichtete am Montag, dass die deutsche Wirtschaft in einem überraschend robusten Zustand ist. Selbst für die gesamte Euro-Zone ist die Lage nicht schlecht, ihre Wirtschaft dürfte in diesem Jahr um 1,5 Prozent zulegen. In den Schuldenstaaten Portugal und Spanien gibt es Hinweise darauf, dass die Reformen greifen. Und der Brexit, so zeigt sich immer deutlicher, ist weniger ein Problem für die europäische Wirtschaft als für die britische.

Die Zahlen zeigen auch, dass die viel gescholtene Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) keineswegs ein Misserfolg war. Sie hat bedenkliche Nebenwirkungen wie den Nullzins für Anleger und mögliche Preisblasen bei Immobilien und Aktien - in erster Linie hat sie aber eine Rezession in Europa verhindert. Hätte die EZB nicht ihre Garantie für Staatsanleihen ausgesprochen, wären die Zinsen in Italien und Spanien so hoch gestiegen, dass es wohl zu einem Schuldenschnitt hätte kommen müssen. Die Folgen wären für das europäische Bankensystem fatal gewesen, es wäre mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer schweren Wirtschaftskrise gekommen.

Man glaubt es kaum, aber es hat in Europa seit dem Finanzkrisen-Jahr 2009 keine Rezession mehr gegeben. Die Wirtschaft befindet sich in einem Aufschwung, der nur nicht als solcher wahrgenommen wird. Die Aussichten für die Unternehmen, Geld zu verdienen, sind weiterhin gut, dies spiegelt sich in den Aktienkursen wider.

Natürlich ist dieser Aufschwung von der EZB initiiert, natürlich muss die Notenbank irgendwann ihre Politik des billigen Geldes herunterfahren. Dies wird umso eher möglich, je mehr es zu einem selbst tragenden Aufschwung kommt, je mehr die Wirtschaft also aus sich selbst heraus wächst. Die Bundesregierung, die von den niedrigen Zinsen sehr profitiert, sollte sich in dieser Situation fragen, was sie tun kann, um einen solchen selbst tragenden Aufschwung zu unterstützen. Sie könnte mit einem großen Programm für sinnvolle Investitionen in Infrastruktur und Bildung die Initialzündung für ganz Europa geben.

Das Festhalten an der schwarzen Null wirkt nicht zeitgemäß. Die Bundesregierung könnte sich ein Beispiel an den Börsianern nehmen, denn die Lage ist deutlich besser als die Stimmung.

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