Kommentar:Paradoxer Wahlsieg

Indiens Premier Narendra Modi startet mit einer komfortablen Mehrheit in die zweite Amtszeit. Dabei fällt seine ökonomische Bilanz nach fünf Jahren mager aus. Das Land braucht weniger Ideologie und mehr Reformen, um seine Stärken zu entfalten.

Von Arne Perras

Die Wahlen hätten kaum besser für ihn laufen können: Indiens Premier Narendra Modi startet mit einer komfortablen Mehrheit in seine zweite Amtszeit. Keinem Regierungschef seit der legendären Indira Gandhi ist es gelungen, einen derart deutlichen Sieg zu erringen. Und doch wirkt sein Triumph im Lichte der wirtschaftlichen Lage paradox. Denn die ökonomische Bilanz Modis nach fünf Jahren an der Macht fällt mager aus.

Der Premier gibt den starken Mann, die Schwächen seiner Wirtschaftspolitik kann er aber auf Dauer nicht ausblenden. Die Schlüsselfrage seiner zweiten Amtszeit lautet deshalb: Bringt der hindu-nationalistische Regierungschef die Kraft und den Mut auf, die Wirtschaft doch noch in die richtigen Bahnen zu lenken? Sicher ist nur, dass ihn die Probleme blitzschnell einholen. Schon am Tag nach der Vereidigung gab es neue Daten. Besonders düster ist die Lage am Arbeitsmarkt. Bezeichnenderweise hatte die Regierung die Zahlen vor der Wahl zurückgehalten, nun aber sind sie offiziell. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 6,1 Prozent so hoch wie seit 45 Jahren nicht mehr.

Auch die Daten zum Wachstum weisen in die falsche Richtung, mit 5,8 Prozent im ersten Quartal 2019 fällt Indien erstmals seit zwei Jahren wieder hinter den Rivalen China zurück. Öffentliche Banken stecken wegen fauler Kredite in der Krise, der Export ist schwach, der Aufbau neuer Industrien kommt wegen mangelnder Auslandsinvestitionen kaum voran, die Binnennachfrage sinkt. Und Millionen überschuldete Bauern verharren im Elend, ohne erkennbaren Ausweg aus der Misere.

Es wäre unfair, alle Probleme alleine Modi anzulasten, viele sind Erblasten. Auch die Kraftlosigkeit der Weltwirtschaft ist nicht hilfreich für den Aufbruch, den der Premier 2014 versprach. In schwieriger Lage hat er einzelne Verbesserungen auf den Weg gebracht: Gasanschlüsse, Stromleitungen, Zuschüsse für den Hausbau, Krankengeld, Toiletten, Straßen. Aber das alles bleibt weit hinter dem vollmundig versprochenen Mega-Schub für ein "neues Indien" zurück.

Wachstum ohne Arbeit schafft ein doppeltes Problem: es verschärft die ökologischen Probleme und verstärkt soziale Spannungen, ein Szenario, das mindestens so beunruhigend ist wie der Konflikt zwischen den Atommächten Indien und Pakistan um das ewig umkämpfte Gebirge Kaschmir. Nun hat Modis Wiederwahl zumindest eine Sorge zerstreut: Viele fürchteten sich vor unklaren Mehrheitsverhältnissen, die in instabile politische Verhältnisse münden könnten. Das wäre Gift für die Wirtschaft gewesen, so gesehen ist jedes klare Mandat schon per se ein Gewinn für Indien. Doch Modis Sieg lässt auch erkennen, wie sehr sich das Volk auf einen einzigen Mann verlässt.

Der Premier dient als Projektionsfläche für Sehnsüchte aller Art, und er hat die psychischen Bedürfnisse geschickt bedient. Mit übersteigerter nationalistischer Rhetorik setzte er einerseits auf Feindbilder, um Gefolgschaft einzufordern, andererseits stärkte er den Stolz eines Milliardenvolkes, das bald schon größer sein wird als alle anderen Bevölkerungen der Welt. Irgendwann aber wird auch der Magier Modi liefern müssen, will er das Vertrauen seiner Wähler nicht verraten.

Die "Modifizierung" Indiens ist teils durch sein Charisma zu erklären, teils durch die Schwäche der Opposition. Niemand im Lager der Gegner bot sich als taugliche Alternative an. Seine Redekunst hat dem Premier geholfen, Mehrheiten zu sichern, anders ist nicht zu verstehen, weshalb eine Regierung trotz massiver Fehler wie der brachialen Bargeldreform so stark punkten konnte. Seine nationalistischen Tiraden gegen Pakistan klangen für viele offenbar so verführerisch, dass sie alle anderen Sorgen für den Moment verdrängten. Indische Analysten haben das Phänomen als "hypnotischen Effekt" des Wahlkämpfers Modi beschrieben.

Mit Hypnose allerdings lässt sich wirtschaftlicher Erfolg kaum herbeizaubern. Modis politische Stärke wird sich nur dann in ökonomischen Aufschwung übersetzen lassen, wenn der Premier nach der Wahl den Schalter radikal umlegt: Statt populistischer Parolen muss er ökonomischen Sachverstand in Stellung bringen, um die Wende zu schaffen. Sein starkes Mandat bietet dafür eine große Chance. Modi 2.0 muss einlösen, was Modi 1.0 nicht schaffte. Das Land braucht weniger Ideologie und mehr ökonomischen Gestaltungswillen, vor allem für Reformen der Landwirtschaft und für mehr Arbeit. Nur dann kann Indien jene Kräfte freisetzen, die das Land für den Aufbruch seines Milliardenvolkes braucht.

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