Kommentar:Mehr Fall als Aufstieg

Die türkische Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise. Nicht nur die Corona-Pandemie setzt ihr zu. Die Firmen bekommen auch die Strukturprobleme nicht in den Griff.

Von Tomas Avenarius

Gute Nachrichten klingen anders. Die Corona-Zahlen steigen stark an. Die trotz der Seuche halbwegs positiv erscheinenden Touristenzahlen werden offenbar mittels der Methodik geschönt. Und das Rating-Institut Moody's hat gerade 13 einheimische Banken herabgestuft; kurz zuvor war das Ranking der Türkei selbst nach unten gesetzt worden. Das Land hat also, zurückhaltend formuliert, ernsthafte wirtschaftliche Probleme. Im Vordergrund steht eine Währungskrise, die sich mit dem täglichen Blick auf die Kurstafeln der Wechselstuben wie ein Netflix-Seriendrama ohne festgelegte Folgenzahl erleben lässt. Der Wert der Lira verfällt rasant, bei einer Inflation von offiziell fast 12 Prozent spüren die 80 Millionen Türken tagtäglich, dass sie für ihr Geld immer weniger bekommen.

Wegen Corona sind viele Arbeitnehmer seit Monaten im Zwangsurlaub oder auf einer anderen Art von Kurzarbeit, andere sind arbeitslos. Kapital kommt seit Längerem auch kaum noch ins Land. Die wachsende, währungspolitische Unsicherheit und die lärmige, großspurig-aggressive Politik der Regierung verschreckt noch die letzten Investoren. So hängt das wachsende Leistungsbilanzdefizit wie eine Bleikugel an Fortkommen und Modernisierung der Türkei. Als ob dies nicht reichte, kommen strukturelle Probleme hinzu. Die Landwirtschaft ist Jahrzehnte lang vernachlässigt worden, das riesige Flächenland inzwischen Netto-Importeur.

Die Industrie läuft, aber sie stellt auch im Jahr 2020 kaum Dinge her, die international wirklich konkurrenzfähig wären. Geschweige denn gäbe es prestigeträchtige Hightech-Produkte mit dem Stempel "Made in Turkey": Die türkischen Unternehmen bleiben meist der zuverlässige und preiswerte Zulieferer, etwa für die deutsche Autoindustrie. Wo die einen das nächste iPhone oder einen familiengerechten Hybrid-SUV auf den Markt bringen, flechten die Türken weiter Kabelbäume oder setzen Boiler und Kühlschränke aus importierten Komponenten zusammen. Und selbst wenn es zukunftsweisend klingt wie das laut angekündigte türkische Elektroauto, kommen die entscheidenden Komponenten mit ziemlicher Sicherheit aus dem Ausland.

All dies ist nicht neu. Die Türkei schleppt ihre Strukturprobleme nicht erst seit gestern mit sich herum. Das heftige Auf und Ab, der strahlende Aufstieg und der schmerzhafte Fall, das sind Kennzeichen der türkischen Wirtschaft. Sie waren es auch vor Beginn der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan. Aber im Wirtschaftsleben zählt nicht der Blick ins Geschichtsbuch, sondern der Wille zu Innovation und Reform. Und das selbst dann, wenn der Einschnitt und Umbau schmerzhaft werden, erst in absehbarer, aber späterer Zukunft wirken.

Solche Reformen - darauf kann einer getrost wetten - sind unter Erdoğan in den nächsten ein, zwei Jahren kaum zu erwarten. Der seit fast zwanzig Jahren Regierende - erst war er Ministerpräsident, nun ist er Präsident - kämpft längst um den Machterhalt. Da er weiß, dass bei Wahlentscheidungen trotz allem nationalistischen Getöse und religiösen Budenzauber am Ende für die Bürger doch die Wirtschaftslage entscheidet, wird er die Menschen mit billigen Konsumkrediten bei Laune halten müssen. Und möglicherweise ein weiteres seiner gigantischen Infrastrukturprojekte - Straßen, Brücken, Flughäfen, Mega-Krankenhäuser - auf den Weg bringen, um den Anschein von Aufbruch zu erwecken und kurzzeitig Arbeitsplätze zu schaffen.

Wirklich drängende Fragen lassen sich so vertagen. Die Währung durch fällige Zinserhöhungen stabilisieren? Nein (und obwohl im Lehrbuch das Gegenteil steht): Das fördert laut Erdoğan die Inflation. Hilfe von außen, vom IWF? Nein, das bringt das Land in Abhängigkeit von Staaten und Mächten, die früher die Feinde der Türkei waren und es angeblich bis heute geblieben sind. Auch unbestreitbar notwendige Infrastrukturfragen wie etwa die Schaffung von Energiesicherheit - die Türkei hat kaum Erdöl und bisher praktisch kein Erdgas, - werden lieber mit nationalistischem Säbelrasseln intoniert als mit dem Angebot internationaler Zusammenarbeit. Für die Türkei zukunftsweisender - und ohne Kriegsrisiko - wäre es, den Griechen und Zyprern bei der Verteilung der am Grund des Mittelmeers vermuteten Rohstoffe die Zusammenarbeit anzubieten. Aber das ist kaum zu erwarten, stattdessen stechen an der Seite der Forschungsschiffe und Bohrschiffe weiter die Fregatten in See.

Denkbar ist auch der Griff in die Wundertüte. Etwa mit dem von Erdoğan als "mein persönliches Wahnsinnsprojekt" vorgestellten "Kanal Istanbul": Eine gigantische künstliche Wasserstraße. Parallel zum und als Ersatz für den Bosporus. Gesäumt an beiden Ufern von einer neuen Großstadt, einem Istanbul-2.0. Das Projekt wäre nach Meinung von Ökologen der wortwörtliche umweltpolitische Gau. Aber er würde erst einmal Arbeitsplätze schaffen. Reformpolitik wäre das keine. Aber über die kann man ja nach den Wahlen nachdenken. Wenn überhaupt.

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