Kommentar:Leerstelle im System

Die Tarifbindung von Unternehmen geht immer mehr zurück - ein Problem für alle in einer sich rasant wandelnden Arbeitswelt. Es wäre Zeit, zu handeln.

Von Henrike Roßbach

Tarifverträge sind, glaubt man dem obersten Gewerkschafter des Landes, eine feine Sache. Im Durchschnitt, sagte Reiner Hoffmann vor Kurzem auf dem Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes, bedeute ein Tarifvertrag 20 Prozent mehr Gehalt, kürzere Arbeitszeiten und einen längeren Urlaub. Da könnte man Hoffmann natürlich zurufen: Und genau deshalb erklären sich so viele Unternehmen zu tarifvertragsfreien Zonen. Doch das wäre arg schlicht, denn Branchentarifverträge haben natürlich auch für Arbeitgeber höchst angenehme Seiten: Sie regeln die Wettbewerbsbedingungen in einer Branche und Region, bieten Planungssicherheit für viele Monate, manchmal sogar Jahre, und sorgen für Betriebsfrieden, weil nicht jeder für sich alleine, je nach persönlicher Begabung, mit dem Chef ums Gehalt pokert.

Tarifverträge wären schön, heißt es im Pflegebereich. Nur: Wer soll da mit wem verhandeln?

Trotz all dieser Verlockungen ist die Tarifbindung hierzulande ein wackeliges Konstrukt geworden. Der Anteil der Beschäftigten, die in einem tarifgebundenen Betrieb arbeiten, entwickelt sich seit vielen Jahren geradezu schwindsüchtig. 1996 waren es in Westdeutschland noch 70 Prozent aller Beschäftigten, 2017 dagegen fiel nicht mal mehr jeder Zweite unter einen Branchentarifvertrag. Im Osten verlief die Entwicklung ähnlich, nur von einer niedrigeren Basis aus: 1996 arbeitete etwas mehr als die Hälfte der Beschäftigten in einem tarifgebundenen Unternehmen, heute nur noch ein Drittel.

Natürlich ist es nicht so, dass alle anderen am Rande der Verelendung vor sich hin schuften. Zum einen gibt es noch Firmen- und Haustarifverträge. Acht Prozent der westdeutschen und zehn Prozent der ostdeutschen Beschäftigten fallen unter solch eine Regelung. Und selbst von denen, in deren Firma gar kein Tarifvertrag gilt, profitieren viele trotzdem von dem, was Gewerkschaften und Arbeitgeber in langen Verhandlungsnächten miteinander vereinbaren. Denn knapp die Hälfte der tariflosen Beschäftigten arbeitet in Unternehmen, die sich zumindest an den bestehenden Branchentarifverträgen orientieren.

Das Problem, das mit der sinkenden Tarifbindung einhergeht, zeigt sich jedoch an anderer Stelle. Zum Beispiel in der Pflegebranche. Dort wird wenig verdient, und die Arbeitsbedingungen sind hart. Diese Kombination wirkt aus Arbeitnehmersicht, vorsichtig formuliert, nicht gerade verlockend. Das logische Ergebnis ist ein Mangel an Pflegefachkräften, den nun alle sehr dringend bekämpfen wollen. Gesundheitsminister Jens Spahn, Arbeitsminister Hubertus Heil, Frauenministerin Franziska Giffey - sie alle werden nicht müde zu betonen, dass in der Pflege besser verdient und bezahlt werden müsse. Tarifverträge, so der Stoßseufzer, Tarifverträge wären schön. Nur: Wer soll da mit wem verhandeln? In der Pflegebranche gibt es viele kleine Firmen, aber keinen Arbeitgeberverband mit robustem Verhandlungsmandat. Und die kirchlichen Träger haben ihr ganz eigenes arbeitsrechtliches System namens "Dritter Weg".

Es gibt viele Wirtschaftszweige, in denen die Lage ähnlich ist. Und weil sich die Arbeitswelt rasant wandelt durch die Digitalisierung, werden vermutlich noch weitere hinzu kommen, wie etwa die wachsende Zahl von Internet-Plattformen, die sich nicht mal als Arbeitgeber sehen. Die schwächelnde Tarifbindung bringt vor diesem Hintergrund Schwierigkeiten jenseits von Urlaubstagen und Nachkommastellen beim Gehalt mit sich. Welche Arbeitszeitregeln sollen gelten, wenn man theoretisch von überall arbeiten und immer erreichbar sein kann? Wie kriegt man es hin, dass die Mitarbeiter lernen, was sie in einem veränderten, digitalisierten Arbeitsumfeld brauchen? Wie soll der Strukturwandel gestaltet werden, wenn selbst manche anspruchsvolle Tätigkeit in Zukunft dank künstlicher Intelligenz von einem Roboter erledigt werden kann?

Auch die Politik treiben solche Fragen um, und sie ist es auch, die den arbeitsrechtlichen Rahmen setzen muss. Dennoch wäre die Gestaltung der kommenden Umbrüche eigentlich eine Paradedisziplin für Arbeitgeber und Gewerkschaften. Die ersten haben damit schon begonnen. Doch mit Unternehmen, die den Arbeitgeberverbänden den Rücken kehren und Gewerkschaften, die weniger neue Mitglieder rekrutieren als alte verlieren, wird das in der Breite nicht einfach werden. In der Pflege, wo die Not schon heute sichtbar ist, will die Bundesregierung auf die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen setzen. Das ist zwar besser als nichts, bleibt aber eine Krücke. Noch besser wäre es, Gewerkschaften, Arbeitgeber, Betriebsräte und Firmenchefs würden zusammen wieder laufen lernen.

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