Kommentar:Lagardes Wettlauf

Eine Berufung von Christine Lagarde an die Spitze der Europäischen Zentralbank ist eine Chance, weil sie unter anderem eine gute Kommunikatorin ist. Sie ist aber auch ein Risiko, weil der politische Einfluss zunimmt.

Von Cerstin Gammelin

Es ist verblüffend, dass sich die deutsche Aufmerksamkeit beim europäischen Personalpaket auf Ursula von der Leyen konzentriert. Darf die ehrgeizige Politikerin überhaupt Präsidentin der Brüsseler Kommission werden? Die Aufregung verdeckt, dass eine ganz andere Personalie weitaus größeren Einfluss auf die Lebensverhältnisse in Deutschland haben wird - die Nominierung von Christine Lagarde als Präsidentin der Europäischen Zentralbank. Ob eine Deutsche die Kommission leitet oder ein Luxemburger, wird hierzulande kaum zu spüren sein. Aber schon, wie und ob die neue EZB-Chefin die Zinswende einleitet - oder eben nicht.

Die Französin Lagarde soll am 1. November als Nachfolgerin des Italieners Mario Draghi die Geldpolitik in der Euro-Zone steuern. Jenseits der Tatsache, dass Lagarde damit bewiesen hätte, dass Frauen jede gläserne Decke durchbrechen können, wäre ihr Wechsel vom Internationalen Währungsfonds zur EZB ein risikoreiches Spiel. Wie es ausgehen wird, ist durchaus offen.

Die Französin entscheidet selten allein, ist aber vielleicht auch leichter zu beeinflussen

Geldpolitische Entscheidungen fallen künftig anders als bisher. Die One-Man-Show von Mario Draghi ist vorbei. Der Italiener entschied Sachverhalte zuerst stets für sich allein und warb danach bei den Kollegen dafür. Gelegentliche Kritiker wie Bundesbankpräsident Jens Weidmann nahm er hin; sie haben ihn geärgert, aber aufgehalten haben sie ihn nie. Als ausgewiesener Zentralbanker mit politischem Gespür wusste sich Draghi trotz mangelnder Kommunikation - vielleicht auch gerade deshalb - Respekt und Autorität zu verschaffen. Mit seiner Ankündigung, alles für den Euro zu tun, was nötig sei, rettete er 2012 die Währung vor dem Aus.

Christine Lagarde ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von Draghi. Sie kommuniziert. Sie lässt sich beraten. Eine One-Woman-Show hat sie nie hingelegt. Als französische Finanzministerin diente sie den Zielen des Präsidenten. Als geschäftsführende Direktorin des IWF war sie den Anteilseignern verpflichtet; einsame Entscheidungen sind nicht überliefert. Lagarde präsentiert stets Fakten, die sie zuvor in Leitungsgremien abgestimmt hat. Lagarde wird diesen Führungsstil in der EZB beibehalten. Sie muss das sogar, schließlich fehlen der Juristin Wissen und Erfahrungen eines Zentralbankers. Die Französin ist auf die Kollegen im engsten Führungskreis der EZB angewiesen. Schlecht ist, dass auch dort das Fachwissen weniger, dafür aber der politische Einfluss größer wird. Mit Lagarde zieht nach dem früheren spanischen Wirtschaftsminister Luis de Guindos die zweite Ex-Politikerin in die Führungsetage die Zentralbank ein, die politisch unabhängig sein soll. Ende des Jahres wird es einen weiteren Wechsel geben, die Regierung in Rom sendet ein neues Mitglied. Man darf davon ausgehen, dass Vize-Premier Matteo Salvini einen Getreuen schicken wird.

Schon bei Lagardes Nominierung hatten die Finanzmärkte ein Feuerwerk der Begeisterung gezündet; sie gehen davon aus, dass die Französin die lockere Geldpolitik von Draghi fortsetzen wird. Die gute Nachricht ist ja tatsächlich, dass Europa damit noch einen Wachstumsschub bekommen würde, der die Bitterkeit der Südländer gegenüber den nördlichen Gläubigerstaaten lindern kann.

Die Kehrseite davon allerdings ist, dass sich Bundesbürger zunehmend benachteiligt fühlen könnten, weil die Zentralbank sich weiterhin insbesondere an Schuldnerländern orientiert, um die Euro-Zone stabil zu halten. Die Bürger in den Gläubigerländern müssen dafür niedrige Zinsen, Immobilienblasen und durchschnittlich höhere Geldentwertung akzeptieren. Was jene Kritiker stärken dürfte, die seit Jahren eine Rückkehr zur stabilitätsorientierten Politik fordern.

Letztlich tritt Lagarde mit dem Amt einen Wettlauf gegen die Zeit an. Sie muss darauf setzen, dass die wachstumsorientierte Geldpolitik die erhofften Erfolge bringt; also stabiles Wachstum, weniger Arbeitslose und weniger Schulden. Sie muss darauf setzen, dass die Regierungen der Südländer die nötigen Reformen beisteuern, die es erlauben, den Geldhahn der Europäischen Zentralbank dosiert zurückzudrehen. Andernfalls wird der Verdruss in Deutschland und anderen Gläubigerstaaten zunehmen.

Lagardes Ruf nach Frankfurt zeigt eindeutig, dass Politiker willens sind, sich in die Entscheidungen der EZB stärker einzumischen. Die Französin ist in ihrer Karriere nie dadurch aufgefallen, großem politischen Druck widerstanden zu haben, eher im Gegenteil. Sie fiel eher dadurch auf, dass sie eine Institution gut präsentierte. Als EZB-Chefin ist Lagarde also Chance und Risiko zugleich.

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