Kommentar:Immer die anderen

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Lange Wertschöpfungs­ketten wie in der Fleischwirtschaft sind eine feine Sache. Da kann jeder dem anderen die Schuld zuschieben. Über Jahre wurde so das Produkt Fleisch entwertet. Ihr Problem können die Akteure nur gemeinsam lösen.

Von Elisabeth Dostert

Eine lange Wertschöpfungskette mit vielen Akteuren ist eine feine Sache. Da lässt sich der Grund für einen Missstand prima von einem auf den anderen schubsen und zurück. Schuld ist immer der andere, er hat dafür zu sorgen, dass das Übel schnell und auf seine Kosten aus der Welt geschafft wird.

Der Markt für Lebensmittel im Allgemeinen und Schweinefleisch im Besonderen ist ein gutes Beispiel für so eine komplexe Kette. Es gibt viele Akteure. Da sind die Fleischfabrikanten und die Produzenten von Ferkeln und Schweinen. Schon die Wörter sagen viel aus über das System, das Lebewesen gleichsetzt mit Industriegütern wie Autos oder Fußbällen. Da sind Handelskonzerne mit Discountern wie Lidl und Aldi. Da sind die Konsumenten und die Mitarbeiter in Fabriken und Läden. Da sind die Politiker, die den Rahmen für den Markt setzen sollen.

Clemens Tönnies ist so ein Fleischfabrikant, er ist der Marktführer. Keine andere Firma in Deutschland schlachtet so viele Schweine wie das westfälische Familienunternehmen. Tönnies, auch Aufsichtsratschef des Fußballklubs FC Schalke 04, gibt das ideale Feindbild ab, weil er sich laut und markig äußert. Noch im Mai äußerte er sich verärgert über Ansätze, Werkverträge zu verbieten. Er schimpfte über wenige "schwarze Schafe", die den Ruf der Branche gefährden. Nach seiner Logik ist Clemens Tönnies jetzt das größte schwarze Schaf auf diesem Markt. Deshalb alle Fleischfabrikanten zu verunglimpfen wäre aber falsch. Es gibt andere. Einen der heftigsten Kritiker hat Clemens Tönnies in der eigenen Familie. Sein Neffe Robert Tönnies, dem die Firma zur Hälfte gehört, fordert seit Langem die Abschaffung der Werkverträge. Die Werkverträge sind eine der großen Sünden der Fleischindustrie. Die überlassenen Arbeitnehmer sind häufig schlecht bezahlt und hausen in miserablen Unterkünften. Viele kommen aus Rumänien, Bulgarien oder Polen. Diesen Menschen nun die Schuld an den Corona-Ausbrüchen anzulasten, weil sie angeblich das Virus eingeschleppt haben, ist besonders perfide. Schließlich haben sie nur getan, was selbstverständlich sein sollte: Sie haben das Wochenende genutzt, um nach Öffnung der Grenzen endlich ihre Familien in den Heimatländern zu besuchen. Noch ist der Grund für die Masseninfektion auch nicht lückenlos aufgeklärt. Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken - viele Menschen auf engem Raum, kühle Temperaturen und Aerosole - sind, wie es aussieht, auch ein Grund für die Verbreitung des Virus. Für das Arbeitsumfeld ist aber der Schlachthofbetreiber zuständig, nicht die Arbeitnehmer.

Unternehmer wie Tönnies begründen ihr Verhalten gerne mit dem Druck, den die Händler oder ausländische Konkurrenten ausüben. Sie verweisen auf die Konsumenten, die billiges Fleisch wollen. Nebenbei bemerkt, haben es trotz des beklagten Preisdrucks die Familien Tönnies, Schwarz (Lidl, Kaufland) und Albrecht (Aldi) zu beträchtlichen Vermögen gebracht. Wirtschaftlicher Erfolg ist nicht verwerflich, es kommt aber schon darauf an, wie er erwirtschaftet wurde. Manche Konsumenten begründen ihr Verlangen nach billigen Lebensmitteln mit geringen Einkommen und sehen Händler, Fleischfabrikanten und Bauern in der Pflicht, für die tägliche, billige Wurst auf dem Tisch zu sorgen. Die Bauern sehen sich als das schwächste Glied in der Kette, das dem Druck nur mit Massentierhaltung begegnen kann.

Jeder in dieser Wertschöpfungskette hat aus seiner Sicht Gründe, um sein Verhalten nicht zu ändern. Über die Jahre hinweg haben alle zusammen und zum eigenen Schaden das Produkt Fleisch entwertet und zur Billigware gemacht. Um den Druck aus der Kette zu nehmen, müssen sich alle ändern. Verbraucher müssen bereit sein, mehr Geld für Fleisch zu zahlen, auch wenn das bedeutet, dass es seltener auf den Tisch kommt. Händler müssen höhere Erzeugerpreise akzeptieren. Fleisch muss mehr Wert haben. Die Fleischfabrikanten müssen dem Wohl von Mensch und Tier gerecht werden. Inakzeptabel wäre es, wenn nach dem jüngsten Skandal wieder einer auf den anderen zeigt. Dann bleibt alles, wie es ist, wie schon so oft.

© SZ vom 19.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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