Kommentar:Eine riskante Wette

Warnstreiks, 24-Stunden-Streiks, unbefristeteStreiks: Alles scheint möglich in der anstehenden Metall-Tarifrunde. Das Aufeinandertreffen von IG Metall und Arbeitgebern setzt in vielerlei Hinsicht völlig neue Maßstäbe.

Von Detlef Esslinger

Die Tarifverhandlungen, die die IG Metall derzeit mit den Arbeitgebern führt, illustrieren vor allem eins: wie sagenhaft gut es vielen Menschen in diesem Land geht. Das würden Gewerkschafter aus Frankreich, Italien oder Griechenland bestimmt auch sehr gern: ernsthaft um sechs Prozent mehr Geld sowie eine 28-Stunden-Woche verhandeln können. Schon die zurückliegenden Abschlüsse der Gewerkschaften bei der Deutschen Bahn und in der ostdeutschen Chemie-Industrie haben illustriert, wie arriviert diese Gesellschaft ist: Den meisten Beschäftigten dort war mehr Zeit wichtiger als mehr Geld. Auf wie vielen Flecken der Welt gibt es derlei wohl sonst noch?

Warnstreiks, 24-Stunden-Streiks, unbefristete Streiks - alles ist möglich

Der Unterschied zwischen den Bahn- und den Chemiegewerkschaften sowie der IG Metall ist, dass der IG Metall eine Wahl zwischen mehr Geld oder mehr Zeit viel zu brav ist. Der Sitz ihrer Zentrale ist zwar Frankfurt am Main, aber weil sie die größte unabhängige Gewerkschaft der Welt ist, handelt sie traditionell nach der alten oberbayerischen Volksweisheit: "Mia san de Mehran, mia san de Schweran." Diese Mehreren, also Schwereren verlangen nun den Arbeitgebern für vier Millionen Beschäftigte mehr Geld und mehr Zeit ab. Damit ist dieser Gewerkschaft das Kunststück gelungen, ausgerechnet während eines Booms die konfliktgeladenste Tarifrunde seit anderthalb Jahrzehnten auszurufen. Warnstreiks sind so gut wie sicher. 24-Stunden-Streiks sind wahrscheinlich. Unbefristete Streiks sind möglich.

Wer dies für übertriebene Dramatisiererei hält, braucht sich nur die Erklärungen beider Seiten vom Mittwoch anzuschauen. Normalerweise begnügen sich Arbeitgeber in dieser relativ frühen Phase von Verhandlungen damit, Forderungen einer Gewerkschaft "überzogen" oder "unrealistisch" zu nennen. Auch, dass die IG Metall das erste Angebot der Gegenseite (zwei Prozent mehr Geld) eine "Provokation" nennt, mag noch als bekannter Textbaustein durchgehen. Aber dass eine Gewerkschaft gar nicht über das verhandeln will, was die Arbeitgeber anbieten, und dass zugleich Arbeitgeber nicht über das verhandeln wollen, was die Gewerkschaft fordert - das ist schon sehr außergewöhnlich. Die IG Metall besteht darauf, ausschließlich über beides zu sprechen: über die Lohnforderung plus ihr Verlangen, dass jeder Arbeitnehmer seine Wochenarbeitszeit für maximal zwei Jahre auf bis zu 28 Stunden verkürzen darf und die Firma dies bezuschussen muss. Die Arbeitgeber halten Gespräche darüber für ungefähr so sinnvoll wie Markus Söder einen Wechsel zu den Grünen.

Die Situation ist verkorkst, und wie meistens im Leben haben beide Seiten daran ihren Anteil. Die Arbeitgeber haben es in den vergangenen Jahren übertrieben mit ihrem Verlangen nach immer flexibleren Arbeitnehmern. Viele Menschen fühlen sich fremdbestimmt angesichts der Megatrends Digitalisierung und Globalisierung - nun wollen sie wieder Herren ihrer selbst werden. Das ist zwar sympathisch, in der weltweit agierenden deutschen Metall- und Elektroindustrie aber nur solange schlüssig, wie man sich der Globalisierung nicht gleichzeitig entziehen (mehr Zeit) und von ihr profitieren (mehr Geld) will. Der Fehler der IG Metall besteht darin, dass sie den Menschen einreden will, diese Kombination wäre ein Leichtes, wären Arbeitgeber nicht von Natur aus so herrisch und so stur.

Diese Tarifrunde wird - noch weniger als andere - nicht durch Argumente entschieden. Sondern alles läuft auf eine Wette hinaus. Die IG Metall wettet, dass sie für die subventionierte 28-Stunden-Woche Hunderttausende Arbeitnehmer wochenlang wird mobilisieren können. Die Arbeitgeber wetten, dass die Gewerkschaft sich verkalkuliert hat, dass ihr über kurz oder lang die Truppen ausgehen werden. Beide Seiten argumentieren mit einer Beschäftigtenbefragung, die die IG Metall zu Jahresbeginn gemacht hat. Die Arbeitgeber weisen darauf hin, dass nur knapp 20 Prozent der Antwortenden damals angaben, weniger als 35 Stunden arbeiten zu wollen. Die IG Metall hingegen führt an, dass 80 Prozent dem Satz zustimmten: "Es wäre gut, vorübergehend die Arbeit absenken zu können."

"Es wäre gut..." indes ist ein Satz, der zu vielen Dingen des Lebens und auf der Welt passt; Wunschzettel gehen der Menschheit ja niemals aus. Die Wette, die sich in der Metallindustrie abzeichnet, ist die: Sind Arbeitnehmer wirklich bereit, nicht nur - wie sonst - für mehr Geld oder sichere Jobs zu streiken, sondern auch für die Erfüllung eines Wunschzettels? Kommt es so, dürften sich Franzosen, Italiener und Griechen endgültig fragen, ob sie jetzt spinnen, die Deutschen.

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