Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Die falsche Null

Wenn noch mehr Populisten in der EU die Macht erobern, droht der Verfall. Um das zu verhindern, bedarf es massiver staatlicher Investitionen - vor allem in Deutschland.

Von Alexander Hagelüken

Wenn auf eine Staatengemeinschaft schon nostalgische Rückblicke geworfen werden, ist höchste Alarmstufe angesagt. Der aktuelle Nobelpreis-Ökonom Bengt Holmström befand dieser Tage, die Hochzeiten der Europäischen Union seien wohl die 90er- Jahre gewesen. Also bevor die EU eilig ihre Mitgliederzahl verdoppelte. Bevor sie Finanz-, Euro- und Flüchtlingskrise durchlitt. Holmström findet es angesichts des derzeitigen Zustands der Gemeinschaft naiv, dass niemand auf den Austritt der zweitgrößten europäischen Wirtschaftsnation Großbritannien vorbereitet war.

In der Tat wirkt die Europäische Union nach all den Krisen ausgelaugt und mutlos. Vorbei die Jahre, als Emissäre aus Asien in Brüssel vorstellig wurden, weil sie das Modell für ihren Kontinent kopieren wollten. Zu vielen Bürgern in zu vielen Staaten stecken magere Rezessionsjahre in den Knochen. Nach dem Brexit-Votum erscheint erstmals ein Verfall der EU denkbar. Wie gesagt, höchste Alarmstufe. Und nun droht die Gemeinschaft auch noch weitere moderate Regierungen in großen Mitgliedsstaaten einzubüßen, was den Verfall zur realen Gefahr macht. In Italien könnte der Reformer Matteo Renzi über seine Reform der parlamentarischen Entscheidungsstrukturen stolpern. Noch gravierender: In Frankreich könnte Marine Le Pen nach dem Vorbild von Donald Trump die Macht ergreifen. Man muss sich mal so einen Brüsseler Gipfel vorstellen: Die sechs größten Staaten repräsentiert durch Marine Le Pen, einen Renzi-Nachfolger Beppe Grillo, einen spanischen Minderheitspremier, eine britische Brexithessa und einen polnischen Rechtspopulisten. Da bleibt als Hoffnung nur die ewige Kanzlerin.

Europa muss wirtschaftspolitisch gegensteuern, um noch mehr Populisten zu verhindern

Damit Europas Zukunft anders aussieht, ist es höchste Zeit, wirtschaftspolitisch gegenzusteuern. Durch Zusammenarbeit die ökonomische Lage in vielen Mitgliedsstaaten zu verbessern. Durch eine schnelle Verbesserung dieser Lage zu verhindern, dass noch mehr Populisten an die Macht gelangen. Vor allem die französische Wahl wird entscheidend.

Es gibt wirtschaftspolitisch eine kurz- und eine langfristige Perspektive. Langfristig müssen Europas Regierungen die Strukturreformen fortsetzen, die sie mühevoll begonnen haben. Es gibt im Zeitalter der Globalisierung keine ernsthafte Alternative dazu, Arbeitsplätze wettbewerbsfähig zu gestalten und klassische Sozialausgaben zu begrenzen. Und in fast allen Krisenstaaten hat sich die Konjunktur ja schon wieder verbessert. Neben diesen Reformen muss sich Europa auf das besinnen, was so viel ökonomischen Erfolg bescherte, dass die Emissäre aus Asien anreisten: auf den Binnenmarkt, der die deutsche Wirtschaftsleistung um mindestens ein Viertel erhöhte. Es braucht nun einen neuen Binnenmarkt des Digitalen, der Energie und der Finanzprodukte.

Doch all diese Maßnahmen wirken eben langfristig. Damit Europa überhaupt ein Club der Vernünftigen bleibt, die solche zähen Projekte verfolgen, bedarf es einer kurzfristig wirksamen Strategie: Steuersenkungen für breite Schichten und massive Investitionen der Staaten in Infrastruktur wie Verkehrs- und Datennetze, um rasch die wirtschaftliche Lage zu verbessern. Um den Bürgern während all der Strukturreformen zu verdeutlichen, dass sich ihre Mühen lohnen. Um, als Nebeneffekt, in Spanien eine dauerhafte Regierung der Mitte etablieren zu helfen. Um einen Premier Renzi zu stützen, selbst wenn er das Referendum über seine Verfassungsreform verliert. Um eine Präsidentin Marine Le Pen zu verhindern.

Aber drücken die erwähnten Länder nicht hohe Schulden? Gehen sie nicht ohnehin höhere Defizite ein, als der Stabilitätspakt vorsieht? Das ist richtig. Nach den erschütternden Erfahrungen der Euro-Krise muss die Währungsunion darauf achten, sich nicht Hals über Kopf zu verschulden. Deshalb sollte die Strategie so aussehen: Europa erlaubt Italien oder Frankreich vorübergehend höhere Ausgaben, wie es ohnehin geschieht. Die größten Ausgaben aber tätigen jene Länder, die solidere Haushalte haben: kleinere Staaten von den Niederlanden über Österreich, Irland und die Balten bis nach Finnland. Und vor allem Deutschland, wo fast jeder sechste EU-Bürger lebt.

Die Brüsseler Kommission schlägt vor, dass die Eurostaaten 2017 im Schnitt ein halbes Prozent ihrer Wirtschaftsleistung mehr ausgeben als geplant. Im Schnitt, das heißt: Wer es sich wie Deutschland leisten kann, soll mehr Geld in die Hand nehmen. Die Reaktion von Finanzminister Schäuble war brüske Ablehnung. Schäuble und Co. schicken sich auf diese Weise an, Europa auf ihrer schwarzen Null in den Abgrund zu reiten.

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SZ vom 22.11.2016
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