Kommentar:Die deutsche Krise

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Warum hierzulande trotz steter Hiobsbotschaften vieles besser ist als die Deutschen selbst glauben wollen.

Von Ulrich Schäfer

Die Deutschen reden über nichts lieber als über die Krise. Und derzeit scheint die Krise überall zu sein. Den Opel-Werken in Rüsselsheim und Bochum droht die Schließung, den Karstadt-Kaufhäusern der Ausverkauf.

Auch Siemens, Daimler und Volkswagen sind in Not; die Konzerne zwingen ihre Mitarbeiter zum Verzicht, während die Unternehmensblüten der New Economy verschwinden und selbst Mittelständler nach Osteuropa ziehen. 45.000 Stellen wollen die großen Unternehmen in diesem Jahr streichen. Ist Deutschland also noch zu retten?

Das Krisen-Gerede wird befeuert durch eine Serie von Konjunkturprognosen. Den Anfang werden an diesem Dienstag die sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute mit ihrem Herbstgutachten machen.

Es folgen die EU-Kommission, der Sachverständigenrat und die Banken. Sie alle werden den Schluss nahe legen, dass der Aufschwung seinen Höhepunkt bereits erreicht hat -- und es im nächsten Jahr wieder bergab geht. Sie alle werden vorrechnen, dass die Zahl der Arbeitslosen im Winter auf fünf Millionen steigen wird -- und auch im Laufe des nächsten Jahres die Vier-Millionen-Marke nicht unterschreiten wird.

Nur die Vorschau der Regierung wird wie üblich mehr Optimismus enthalten, was sich schon früher als falsch erwiesen hat. Droht also nach einer kurzen Phase des Verschnaufens die nächste Rezession?

"Germany is back"

Tatsächlich sagt die hysterische Standortdebatte viel über die Gemütsverfassung der Deutschen aus, aber nur wenig über die wahre ökonomische Verfassung des Landes. Denn während Medien, Politiker und Auguren in Larmoyanz versinken und ihrem Hang zum Untergang frönen, wandelt sich außerhalb der Grenzen die Sicht auf die Bundesrepublik.

Amerikanische Magazine erscheinen mit Schlagzeilen wie Germany is back. Im Ausland staunt man, wie sich der kranke Mann Europas allmählich wieder berappelt, wie ein politischer Reformprozess in Gang kommt und wie selbst die Gewerkschaften -- siehe Karstadt, siehe Daimler, siehe öffentlicher Dienst -- plötzlich große Veränderungen mittragen.

Management-Fehler

Mehr Nüchternheit in der wirtschaftspolitischen Debatte täte deshalb auch hierzulande gut. So ist der Unternehmensstandort Deutschland bei weitem nicht so schlecht, wie die Apokalyptiker behaupten. Die Binnennachfrage mag schwach sein, doch der Export brummt, wegen der hohen Qualität der Produkte: Trotz des teuren Euro verkauft sich Made in Germany erstaunlich gut.

Nur die Unternehmen in den USA und Finnland sind, wie eine neue Studie des Weltwirtschaftsforums zeigt, wettbewerbsfähiger als die deutschen. Selbst die Schwierigkeiten bei Opel und Karstadt taugen nicht als Gegenbeweis, denn in diesen Fällen hat vor allem das Management versagt, nicht der Standort.

Die Führungskräfte von Opel und Karstadt haben Trends verschlafen und strategische Fehler gemacht, während anderswo seit Beginn der 90er Jahre nicht Stellen gestrichen, sondern geschaffen wurden: in der Autoindustrie mehr als 100.000, im Handel mehr als 200.000.

Auch die Abschwächung des Wachstums, die das Herbstgutachten nun prophezeit, ist für sich genommen nicht sonderlich aussagekräftig. Denn ähnlich wie der Aufschwung im laufenden Jahr viel damit zu tun hat, dass die Zahl der Arbeitstage ungewöhnlich hoch war, so lässt sich der vermeintliche Abschwung im nächsten Jahr damit erklären, dass der Kalender mehr Feiertage parat hält und mithin weniger hergestellt wird.

Ein staatliches Konjunkturprogramm, das die Gewerkschaften fordern, lässt sich damit nicht rechtfertigen. Im Grunde ändert sich im nächsten Jahr überhaupt nichts: Deutschlands Ökonomie wächst auf ähnlichem Niveau wie bisher -- was für hiesige Verhältnisse viel ist, im internationalen Vergleich jedoch mager, und am Arbeitsmarkt wenig ändert.

Dies führt zum eigentlichen Kern der deutschen Misere: dem außerordentlich niedrigen "Wachstumspotenzial". Während nämlich die amerikanische Wirtschaft zuletzt im Durchschnitt mit drei Prozent zulegte, stößt die deutsche Wirtschaft bei eineinhalb bis zwei Prozent an ihre Grenzen.

Trendwende

Dummerweise besagte zudem bislang eine andere Faustregel, dass hierzulande erst ab einem Wachstum von zwei Prozent neue Jobs entstehen, während in den USA mit ihren wesentlich flexibleren Märkten die Beschäftigungsschwelle nur bei einem Prozent liegt. Deutschland steckte in der Job-Falle.

Genau diese beiden Trends könnten sich nun ganz allmählich ändern. Denn die Gesundheits- und Rentenreform, die Hartz-Gesetze und flexibleren Tarifverträge tragen -- trotz all ihrer Mängel -- dazu bei, dass sich die Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaft mittelfristig verändern. Es gibt erste Aussagen von Ökonomen, dass die Beschäftigungsschwelle sinkt.

Den Angestellten von Opel und Karstadt, die in diesen Tagen um ihre Jobs bangen, nützt diese Erkenntnis wenig. Doch wenn Regierung und Opposition hier weitermachen, wenn sie das Steuer- und Arbeitsrecht entrümpeln und sich die Gewerkschaften auf mehr betriebliche Bündnisse für Arbeit einlassen, kann Deutschland seine Krise irgendwann überwinden -- nicht in zwei oder drei Jahren, aber vielleicht in zehn Jahren.

© SZ vom 19.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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