Kommentar:Die arme Mitte

In den USA bahnt sich ein sozialpolitisches Drama an, weil immer mehr Bürger finanziell ums Überleben kämpfen müssen. Besonders die für die ökonomische Stabilität wichtige Mittelschicht droht in die Armut abzurutschen.

Von Andreas Oldag

In der letzten Phase des US-Wahlkampfes gewinnt neben dem Irak immer mehr die Wirtschafts- und Sozialpolitik an Bedeutung.

Kommentar: Soziales Drama, Klientelpolitik zu Gunsten der Wohlhabenden und Minderheitenprobleme kennzeichnen die amerikanische Gesellschaft.

Soziales Drama, Klientelpolitik zu Gunsten der Wohlhabenden und Minderheitenprobleme kennzeichnen die amerikanische Gesellschaft.

(Foto: Foto: AP)

Wenn US-Präsident George W. Bush am Mittwoch in einer dritten, landesweit zu sehenden Fernsehdebatte auf seinen Herausforderer John Kerry trifft, erwarten die Zuschauer nicht nur klare Worte, wie sich mehr Arbeitsplätze schaffen lassen.

Sie wollen auch Vorschläge hören, wie die soziale Situation der Familien verbessert werden kann. Es geht um Steuererleichterungen und darum, wie die immer stärker gestiegenen Kosten für die Sozial- und Gesundheitsvorsorge finanziert werden sollen.

Mittelschicht kommt unter die Räder

Wie selten zuvor in der jüngeren amerikanischen Geschichte droht eine Bevölkerungsschicht unter die Räder zu kommen, die bislang für die ökonomische Stabilität von zentraler Bedeutung war: die Mittelschicht.

So ist der Anteil der Haushalte mit einem inflationsbereinigten, jährlichen Einkommen zwischen 25000 und 75000 Dollar in der Zeit von 1980 bis 2003 von 51,9 Prozent auf 44,9 Prozent gesunken. Nur wenige haben dagegen den Aufstieg in höhere Einkommenssphären geschafft. Gleichzeitig wächst die Masse der Niedrigverdiener.

Von 291 Millionen Amerikanern haben 43 Millionen keine Krankenversicherung. Dennoch hält Bush daran fest, die ohnehin dürftige soziale Sicherung weiter zu privatisieren.

Amerikaner sollen Geld in Aktien und Investmentfonds anlegen. De facto werden die Renten den Brokern an der Wall Street überlassen.

Rentner mit leeren Händen

Eine riskante Strategie: Ein Börseneinbruch trifft meistens das Vermögen von Kleinanlegern, die dann als Rentner mit leeren Händen dastehen und vom Staat durch teure Programme für Arznei- und Arztkosten alimentiert werden müssen.

Die US-Gesellschaft driftet auseinander. Während das Leben in den unteren und inzwischen auch den mittleren Einkommensschichten zum Überlebenskampf wird, schwelgt eine kleine Schicht von Superreichen in Luxus.

Exorbitante Gehälter und Verfehlungen von Managern haben diesen Prozess beschleunigt. Nach dem Börsencrash 2001 verlangten zwar viele Kritiker, Leistung und Gehalt in den Führungsetagen in eine vernünftige Beziehung zueinander zu bringen.

Doch nun wiederholt sich der alte Größenwahn. Durchschnittlich stiegen die Bezüge der Topverdiener im vergangenen Jahr um 22 Prozent. Davon können der Automonteur bei Ford oder die Supermarkt-Verkäuferin bei Wal-Mart nur träumen.

Akzeptierter Reichtum

Nun wird Reichtum in den USA - im Gegensatz zu den europäischen Neidgesellschaften - weithin akzeptiert und nicht denunziert. Die Illusion, den sozialen Aufstieg selber schaffen zu können, erfüllt die Amerikaner mit Stolz und stachelt ihren Ehrgeiz an.

Doch die soziale Desintegration, die sich an den nüchternen Zahlen über die wachsende Armut ablesen lässt, rüttelt an den Grundfesten der weltgrößten Volkswirtschaft.

Die Klientelpolitik zu Gunsten der Wohlhabenden, die viel mehr als die unteren Einkommensschichten von Steuergeschenken profitieren, unterhöhlt die Einnahmequellen des Staates.

Zerrüttete Staatsfinanzen

Das Haushaltsdefizit dürfte sich in diesem Jahr auf mehr als 420 Milliarden Dollar auftürmen. Die zerrütteten Staatsfinanzen werden für den Wahlsieger am 2.November - ob er nun Republikaner oder Demokrat ist - eine schwere Hypothek sein.

Am einfachsten macht sich Bush die Sache, indem er auf höheres Wirtschaftswachstum vertraut, das auch zu Mehreinnahmen des Staates führen soll. Von einer Sanierung der Staatsfinanzen spricht der Präsident indes kaum. In dieser Hinsicht ist Kerry konkreter.

Er fordert steuerpolitische Korrekturen zu Lasten der Reichen. Mit den Mehreinnahmen will er auch dafür sorgen, dass die Zahl der Amerikaner ohne Krankenversicherung drastisch reduziert wird. Doch die mächtige Lobby der Spitzenverdiener hat sich bisher fast immer durchsetzen können.

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