Kommentar:Der Zeit voraus

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Helmut Martin-Jung ist kein Lautsprecher, hat aber eine eigene Meinung. (Foto: Bernd Schifferdecker)

Virtuelle Realität kann derzeit die überhöhten Erwartungen nicht erfüllen, die in sie gesetzt wurden. Doch die Technik hat großes Potenzial.

Von Helmut Martin-Jung

Mittendrin im Dschungel, in der Tiefsee, im Horror-Spiel oder im Horror des Krieges - die Technik der virtuellen Realität (VR) erlaubt es, Dinge zu erleben, in Welten einzutauchen, die man vermutlich nie in Wirklichkeit sehen wird oder auch nie am eigenen Leib erleben will. Es ist eine faszinierende Technik, eine, die einem so eindrucksvoll wie keine vor ihr vorgaukelt, man wäre ganz woanders.

Kein Wunder also, dass darum etwas entstanden ist, für das sich der englische Begriff Hype eingebürgert hat. Eine Welle der Begeisterung schwappt durch die Technik-Welt. Vor einem guten Jahr überraschte der Chef von Facebook, dem größten sozialen Netzwerk der Welt, Mark Zuckerberg, auf einer Technikmesse mit einem Auftritt beim Smartphone-Hersteller Samsung. Facebook, kündigte er mit großen Worten an, werde zu der Plattform für virtuelle Realität und das Filmen mit den dafür nötigen Rundum-Kameras der Normalfall werden. Die Kameras und die VR-Brillen, in die man Smartphones als Bildschirm steckt, hatte passenderweise Samsung im Angebot.

Passiert aber ist kaum etwas, wie Zuckerberg kürzlich selbst zugegeben hat. Es zeigt sich wieder einmal: Ist die erste Welle der Begeisterung für eine neue Technik verebbt, stellt sich oft Ernüchterung ein. Im Falle der VR-Brillen würde man vielleicht treffender sagen: Kopfschmerz. Denn die einer Taucherbrille ähnelnden Geräte sind schwer und geben außerdem nur ein horizontales Sichtfeld von etwa 100 Grad frei, anders als das menschliche Auge, das etwa 180 Grad erfasst. Nicht wenigen Nutzern wird auch übel, wenn sie sie tragen. Die Auflösung der Brillen ist auch nicht berauschend. Würde man sie aber erhöhen, hätten die Geräte Probleme dabei, die Bewegungen des Kopfes mit der Darstellung auf dem Bildschirm zu synchronisieren.

Es wäre nicht das erste Mal, dass bei einer mit viel Aplomb gestarteten Technik zumindest die allzu hoch gesteckten Erwartungen auf Normalmaß herunter gesetzt werden. So schlimm wie mit der einst heiß gehandelten Plattform Second Life wird es bestimmt nicht kommen. Auch das eine virtuelle Realität, in der man seinen digitalen Zwilling per Computer und Internet spazieren führen konnte. Sogar Firmen der Old Economy ließen sich beschwatzen und eröffneten darin eine Dependance - heute ist die virtuelle Welt nahezu menschenleer.

Virtuelle Realität ist spannend, aber die Technik dafür muss erst noch besser werden

Also abhaken, weitermachen wie bisher? Bloß nicht! Dafür ist die Technik der virtuellen Realität und vor allem die mit ihr verwandte der erweiterten Realität viel zu spannend. Bei VR muss die weitere Entwicklung bessere und bequemer zu tragende Brillen bringen. Das trifft auch auf die erweiterte Realität zu - auch die höchst interessante Brille Hololens von Microsoft zum Beispiel ist noch klobig und schwer.

Doch die Möglichkeiten, etwa einem Monteur auf dessen Brille einzublenden, wo er den Schraubenschlüssel ansetzen muss, die reale Welt mit sogar dreidimensional darstellbaren und bewegbaren Objekten zu bevölkern, sind enorm vielversprechend. Und sie werden auch schon eingesetzt. Überwiegend allerdings im professionellen Umfeld und damit ein wenig abseits des VR-Hypes.

Auch bei der erweiterten Realität sind die Erwartungen im Moment noch hoch. Zu hoch angesichts der Schwierigkeiten, die noch zu überwinden sind. Doch Konzerne wie Apple, Microsoft und Google sowie viele kleine, kaum bekannte Unternehmen arbeiten mit viel Einsatz daran. Wann dabei echte Massenanwendungen herauskommen, wird man sehen. Dass es so kommt, darf aber als sicher gelten.

© SZ vom 22.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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