Kommentar:Der Rahmen stimmt

Wie Puzzleteile liegen die vielen Unterpunkte des Sondierungspapiers von Union und SPD auf dem Tisch. Fehlt den Großkoalitionären etwa der Mut, die großen Reformen anzugehen, die Deutschland braucht? Ein Kapitel im Papier gibt allerdings Hoffnung.

Von Cerstin Gammelin

Ein deutsches Traditionskaufhaus wird von chinesischen Investoren übernommen, ein Technologiekonzern schließt hiesige Werke und baut jenseits deutscher Grenzen Roboterfabriken auf, Gewerkschafter fordern Arbeitszeitverkürzungen, die Mieten steigen unaufhörlich, klimaschädliche Emissionen auch. Das alles sind Momentaufnahmen aus Deutschland, einem Land, in dem die Bürger sicher, gut und gerne leben sollen. Anders als so mancher Politiker glauben macht, ist nicht nur die Welt, sondern auch Deutschland im Umbruch. Die nächste Regierung wird radikale Herausforderungen zu bewältigen haben, und deshalb ist das Sondierungsergebnis von CDU, CSU und SPD vor allem mit Blick auf die Frage zu bewerten: Können die das?

Bislang gleicht die Suche nach der Antwort einem Puzzle. Wie unterschiedlich geformte Teilchen liegen die einzelnen Ergebnisse auf dem Tisch, ohne dass ersichtlich ist, welches große, ganze Bild sie ergeben. Manches gibt Anlass zur Hoffnung, etwa die besseren Chancen auf gute Bildung, die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in der Arbeitswelt oder mehr soziale Sicherheit für Geringverdiener und Familien. Es sind Vereinbarungen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und den Interessen von Arbeitnehmern dienen.

Anderswo fehlen Mut und Ideen. Vermisst wird, dass sich die Parteien des dringenden Problems nach bezahlbarem Wohnraum annehmen. Die Mieten in den Städten steigen unaufhörlich, ohne dass brauchbare Maßnahmen dagegen ergriffen werden. Was spräche denn dagegen, auch Wohnen wie Wasser oder Energie zur Daseinsvorsorge zu zählen und entsprechend zu fördern? Ein großes Manko ist auch, dass ein Paradigmenwechsel in der Steuerpolitik nicht einmal angedeutet wird. Es scheint, als verschließen die Parteien die Augen davor, dass immer mehr Roboter menschliche Arbeitskraft ersetzen und Wertschöpfung im Internet über die Verarbeitung von Daten entsteht. Eine Robotersteuer ist unausweichlich, will der Staat nicht zusehen, wie seine Einnahmen absehbar wegbrechen.

Zu den offenen Fragen gehört auch, wie eine neue Regierung die fortschreitende Digitalisierung gestalten will. Es reicht nicht mehr, einige Milliarden Euro für den Breitbandausbau bereitzustellen und Computer in Schulen zu bringen. Nein, die neue Regierung muss erklären, wie Hundertausende wegbrechender Jobs in vielen Berufen durch neue ersetzt werden können. Sicher, es gibt Studien, die besagen, dass ausreichend neue Arbeitsplätze entstehen werden. Doch eine Studie ersetzt kein Einkommen für Siemensarbeiter oder Berufskraftfahrer, die schon ihren Job verloren haben. Sicherheit wird sich nur einstellen, wenn Bürger darauf vertrauen können, dass sich die Regierung des Problems annimmt.

Im Europakapital stehen Dinge, mit denen Globalisierung und Digitalisierung zu gestalten sind

Einiges haben die Sondierer also angepackt, anderes nicht. Man wäre beinahe geneigt zu resümieren, dass es den alten Großkoalitionären offenbar doch an ausreichend Ansporn und Inspiration fehlt, um in einer Neuauflage auch den Aufbruch in die neuen Zeiten zu schaffen - gebe es nicht das Kapitel 1 der Sondierungsvereinbarung, Europa.

Im Grunde genommen ist das Kapitel Europa, das CDU, CSU und SPD ganz an den Anfang ihrer Sondierungsergebnisse gestellt haben, der entscheidende Wegweiser in die Zukunft. In diesem Kapitel zeigen die Parteien, dass sie grundsätzlich verstanden haben, was zu tun ist, damit man gut, sicher und gerne in Deutschland leben kann. Auf drei Seiten buchstabieren sie ihre Ideen für die künftige Zusammenarbeit mit den europäischen und internationalen Nachbarn aus. Das Signal ist mutig und ermutigend zugleich: Wir ziehen uns nicht zurück ins Nationale, wir glauben weiter an gemeinsame Werte und multilaterale Zusammenarbeit. Im Europakapitel stehen die Dinge, mit denen Globalisierung und Digitalisierung zu gestalten sind. Es geht um soziale Mindeststandards, die Lohndumping unterbinden; um Mindeststeuern, die unfairen Wettbewerb verhindern; um faire Handelsabkommen, gemeinsame Grenzsicherung und gemeinsame Entwicklungshilfe für Afrika. Die neue große Koalition bettet ihre nationale Politik in einen europäischen Kontext. Das ist in Zeiten des wiederkehrenden Nationalismus nicht selbstverständlich. Zumindest der Rahmen für das Puzzle stimmt.

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