Kommentar:Der dumme Pakt

Wenn die EU-Kommission über Deutschland spricht, klingt ihr Urteil etwa so: Der einstige Musterschüler Europas ist durchgefallen. Die Etatzahlen? Nicht ausreichend. Die Haushaltsziele? Mangelhaft. Der Sparwille? Ungenügend.

Von Ulrich Schäfer

(SZ vom 19.11.03) - Deshalb soll die Bundesregierung nun nachsitzen und weitere fünf Milliarden Euro sparen - zusätzlich zu den Kürzungen, die die Agenda 2010 ohnehin vorsieht. Die geplanten Auflagen sind rigoros, Gerhard Schröder und Hans Eichel wollen sie nicht hinnehmen, und man kann ihren Ärger verstehen.

Denn die Kommission exekutiert den Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt in einer Art und Weise, die jedes Fingerspitzengefühl vermissen lässt.

Die Brüsseler Eurokraten wollen genau jenes Land bestrafen, das derzeit wie kein anderes sein Sozialsystem umbaut. Die Stabilitätswächter rechnen vor, dass die Reformen nicht ausreichen, obwohl Deutschland genau das umsetzt, was Brüssel bislang immer als richtig bezeichnet hat.

Extra-Milliarden

Offenbar will die Kommission nicht einmal abwarten, wie das Vermittlungsverfahren zwischen Bundestag und Bundesrat ausgeht. Frühestens am 19.Dezember wird sich das entscheiden, doch schon im Januar sollen Schröder und Eichel erklären, wie sie die Extra-Milliarden zusammenkratzen.

Natürlich wird niemand bestreiten, dass solide Staatsfinanzen auf Dauer das Wachstum fördern und deshalb ökonomisch wünschenswert sind. Doch es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet Romano Prodi nun den Beschluss gegen Deutschland herbeigeführt hat.

Denn im vergangenen Jahr hatte der Kommissionspräsident in einem Interview mit der französischen Zeitung Le Monde nebenbei einen bemerkenswerten Satz fallen lassen: "Der Stabilitätspakt ist dumm, wie alle starren Regeln."

Das erzürnte halb Europa, selbst Hans Eichel sah sich bemüßigt, Prodis Worte zurechtzurücken. Der Pakt sei flexibel und keineswegs dumm und starr. Inzwischen zeigt sich: Prodi hatte doch Recht.

Bis ins kleinste Detail

Der Pakt ist starr, weil er bis ins kleinste Detail die Fristen und Abläufe festhält, die die Kommission im Falle eines übermäßigen Defizits einhalten muss. Ob es um zwei Wochen, einen, drei oder zehn Monate geht, die zwischen den Schritten eines Strafverfahrens, zwischen Frühwarnung und Sanktionen, liegen müssen: Alles ist genau geregelt - und deshalb handelt die Kommission.

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist auch deshalb starr, weil er trotz seines Doppelnamens kaum Aussagen zum Wirtschaftswachstum enthält. Viel ist von "geplanten" und "tatsächlichen Defiziten" sowie "haushaltspolitischen Korrekturmaßnahmen" die Rede, wenig von Reformen der Arbeits- und Gütermärkte, der Steuer- und Abgabensysteme, Reformen also, die erst mittelfristig wirken, dann aber für mehr Wachstum und damit auch für stabilere Staatsfinanzen sorgen.

Der Pakt ist zudem dumm, weil vieles, was er regeln soll, unklar bleibt und deshalb zu viel Spielraum für Interpretationen lässt. Was zum Beispiel ist unter den "besonderen Umständen" zu verstehen, die einen zeitweisen Verstoß gegen die Schuldengrenzen rechtfertigen? Und was unter einem "außergewöhnlichen Ereignis, das sich der Kontrolle des betreffenden Mitgliedsstaats entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt"?

Brüsseler Lesart

Die globale Rezession, nebst zweier Kriege und Terroranschlägen, die die Wirtschaft lähmen, scheinen nach Brüsseler Lesart offenbar nicht dazu zu zählen. Was aber dann?

Selbst das entscheidende Kriterium, die Schuldenobergrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), bleibt vage. Dreikommanull sei dreikommanull, hat der ehemalige Bundesfinanzminister Theo Waigel erklärt.

Doch ausdrücklich haben die EU-Staaten in ihrem Regelwerk festgelegt, dass es auf eine Bewertung der Zahlen ankommt, also auch auf das politische und ökonomische Umfeld, und es deshalb sein kann, "dass ein Defizit von mehr als drei Prozent des BIP nicht übermäßig ist".

Nicht in einer Hand

Der Pakt ist auch deshalb dumm, weil er verkennt, dass in föderalen Staaten die Etatverantwortung nicht in einer Hand liegt. So muss sich die Kommission, wenn sie Zwangsmaßnahmen verhängt, "auf öffentlich bekannt gegebene Beschlüsse der Regierung" beziehen. Doch was ist, wenn es neben der Bundesregierung noch 16 Landesregierungen gibt?

Gerade weil der Pakt vieles im Nebulösen belässt, eskaliert nun der Konflikt zwischen Brüssel und Berlin. Es geht um die richtige Auslegung der Regeln. Die Bundesregierung behauptet, sie habe alle bisherigen Empfehlungen aus Brüssel befolgt.

Wenn also 2004 erneut ein zu hohes Defizit drohe, liege dies nicht an ihr, sondern an der Konjunktur. Die Kommission dagegen behauptet, sie sei zum Handeln verpflichtet und verlangt, dass nächste Woche auch die EU-Finanzminister ihren Beschluss abnicken.

Ein solcher Automatismus lässt sich aus dem Stabilitätspakt aber nicht ableiten: Brüssel kann handeln, ist dort bei jedem Schritt des Defizitverfahrens zu lesen. Nirgends steht, dass die Kommission handeln muss - und schon gar nicht, dass die Finanzminister dies müssen. Schröder und Eichel wird es deshalb in den nächsten Tagen nicht schwer fallen, eine Mehrheit gegen das starrsinnige Vorgehen der Kommission zu organisieren.

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