Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Aufwachen, bitte

Viele Menschen haben das Gefühl, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland wächst. Es muss sich etwas ändern. Deshalb braucht Deutschland eine solide linke Politik, ganz sicher aber keinen linken Populismus.

Von Catherine Hoffmann

Die bittere Wahrheit ist, dass heute niemand weiß, wie man den Aufstieg der Rechtspopulisten stoppen kann. Sie haben in nahezu allen westlichen Ländern Auftrieb, Deutschland eingeschlossen. Nun plädieren Teile der Linken dafür, auf den rechten Populismus mit einem linken Populismus zu antworten. Doch mehr als ein taktisches Manöver kann dies nicht sein. Überzeugender als linke Rhetorik wäre eine linke Politik.

Die braucht es heute so dringend wie lange nicht mehr. Viele Menschen haben das Gefühl, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland wächst, dass Teile der Gesellschaft abgehängt und marginalisiert sind, während die Mitte schrumpft und immer öfter vom sozialen Abstieg bedroht ist. Ihr Gefühl trügt nicht: Gut ein Fünftel der Erwerbstätigen ist heute atypisch beschäftigt, sie arbeiten in befristeten oder geringfügigen Arbeitsverhältnissen, in Teilzeit oder als Leiharbeiter. An ihnen sind Wachstum und Wohlstand oftmals vorbeigezogen.

In der Mitte der Gesellschaft gibt es Arbeitnehmer, die in zwei Jahrzehnten ihre Kaufkraft nicht steigern und keine Vermögen aufbauen konnten. Es gibt die Kinder der Ärmeren, die entgegen allem Gerede von Chancengleichheit kaum Hoffnung auf eine bessere Zukunft haben. Und es gibt gut qualifizierte Menschen, die um ihren Arbeitsplatz bangen müssen, wenn vernetzte Computer und selbstlernende Programme noch schlauer werden, als sie heute schon sind. Angesichts dieser Entwicklung ist die Verunsicherung, die allerorten spürbar ist, verständlich.

Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit wurde über Bord geworfen

Doch der alte Schutzpatron der sozial Schwachen, die europäische Sozialdemokratie, schafft es nicht mehr, diesen Menschen Hoffnung zu machen auf eine bessere Zukunft. Der französische Soziologe Didier Eribon weiß auch, warum: Sie habe die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit "über Bord geworfen". Unter Blair und Schröder verwandelte sich die einstige Arbeiterpartei in eine Partei des Marktes. Es war die SPD, die in den 90er-Jahren die Finanzmärkte liberalisierte und den Hedgefonds den Weg bereitete. Die Sozialdemokraten senkten das Rentenniveau, erfanden die Riester-Rente und vermarktlichten so die Sozialpolitik. Vor allem aber schufen sie die Agenda 2010, welche die FAZ als die "größte Kürzung von Sozialleistungen seit 1949" bezeichnete. Angesichts dieser Programmatik muss sich niemand fragen, warum es Rechtspopulisten gelingt, die Verdrossenen und Wütenden für eine Politik der Abschottung und des Sozialprotektionismus zu mobilisieren: Links gibt es einfach keine glaubwürdige und offensiv vertretene Perspektive.

Was nun zu tun wäre: Die vermeintliche Alternativlosigkeit der gegenwärtigen Politik aus den Köpfen zu schütteln. Warum gibt es nicht längst eine lebendige Debatte über ein solidarisches Wirtschaftsmodell für die digitale Zukunft, das auch bei nachlassendem Wirtschaftswachstum Gerechtigkeit schafft? Ob nun eine Bürgerversicherung oder ein Grundeinkommen die richtige Antwort sind, darüber lässt sich trefflich streiten. Aber man sollte zumindest anfangen, sich mit ungewohnten Ideen zu beschäftigen, statt so zu tun als seien das Normalarbeitsverhältnis, 40-Stunden-Woche und zwei oder drei Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr, eine realistische Prognose für die kommenden Jahrzehnte.

Wer heute an schlechte Arbeit denkt, meint meist Leiharbeit und Minijobs. Doch die Unternehmen sind längst einen Schritt weiter, sie setzen immer öfter auf Kontingenzarbeitskräfte, die formal selbständig sind, kein sicheres Einkommen haben und sich immer wieder um Aufträge bewerben müssen. Kopfarbeit wird zunehmend wie am Fließband organisiert, in kurzen Takten mit wenigen fest angestellten Mitarbeitern - und vielen freien, die nach Bedarf zuliefen. Das trifft Industrie wie Verwaltung und Kreativwirtschaft. Wo bleiben die Antworten der Sozialdemokraten auf die neuen Beschäftigungsformen der Gig-Economy?

Und, liebe Linke, wie sieht Europa aus, wenn die selbstverordnete Sparpolitik und die erschöpfte Geldpolitik rechten Ideologen in die Hände spielen? Wäre es nicht Zeit für eine Besinnung auf die Kraft von Wirtschafts- und Fiskalpolitik, wie sie ironischerweise vom Internationalen Währungsfonds gefordert wird. Auch muss man fragen, warum linke Parteien im Kampf gegen soziale Ungleichheit nicht über nationale Grenzen hinweg agieren. Wer unregulierte Märkte zähmen und globale Konzerne zu Steuermoral bewegen will, wer den Klimawandel stoppen und Globalisierung gestalten will, der braucht supranationale Zusammenarbeit und keine nationale Abschottung. Europa war einmal ein solches Projekt der Hoffnung - es könnte wieder eines werden.

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SZ vom 30.12.2016
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