Kommentar:Amazon sei Dank

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Der amerikanische Internethändler startet mit dem Versand von Obst und Gemüse. Das ist wichtiger, als es scheint. Denn es zeigt: Die Discount-Kultur, in der das Billigsein alle anderen Einkaufskriterien dominierte, ist überholt. Gut so.

Von Michael Kläsgen

Zwei Nachrichten aus dieser Woche führen den Umbruch, der gerade im Lebensmittelhandel vonstatten geht, plastisch vor Augen: Aldi eröffnet vorübergehend in Köln ein Bistro und kommuniziert auch noch eifrig darüber. Und Amazon Fresh ist startklar, das Logistikzentrum in München-Daglfing offiziell an den US-Internethändler übergeben; jetzt kann es losgehen mit dem Versand von Obst und Gemüse. Amazon schweigt beharrlich darüber. Ein bisschen so wie früher, als Aldi ebenfalls nichts über seine Pläne verriet.

Die Ereignisse zeigen zweierlei: Erstens haben sich zumindest in der Kommunikation die Verhältnisse umgekehrt. Und zweitens: Die Discount-Kultur, in der das Billigsein alle anderen Einkaufskriterien dominierte, ist überholt. Aldi müht sich um neue Käuferschichten und will das Billigheimer-Image abstreifen. Lidl geht einen ähnlichen Weg. Beide trieben mit ihren Kampfpreisen jahrzehntelang Rewe und Edeka vor sich her und zwangen sie dazu, Eigenmarken auf den Markt zu bringen. Jetzt hat der Preis als Kampfmittel ausgedient. Das Einkaufen von Lebensmitteln wird damit insgesamt aufgewertet. Sie müssen in erster Linie nicht mehr nur günstig sein.

Jahrzehntelang war der Preis beim Einkaufen entscheidend. Das könnte jetzt vorbei sein

Das ist eine positive Entwicklung, die einem gesellschaftlichen Trend folgt und natürlich nicht das Verdienst von Amazon ist. Doch treibt der US-Konzern den Wandel insofern voran, als seine kompromisslose Kundenfixierung zur Tyrannei für die etablierten Konzerne geworden ist. Ohne den US-Konkurrenten, der ja nicht mal aus der Branche stammt, hätte sich der schwerfällige und nicht sehr moderne deutsche Lebensmitteleinzelhandel vielleicht auch ein wenig mehr in Richtung Kunden bewegt. Aber es wäre wahrscheinlich nicht so schnell geschehen.

Aldi und Lidl haben die Deutschen über die Jahrzehnte hinweg bei Lebensmitteln zu Pfennigfuchsern erzogen. Das rächt sich jetzt. Die Margen sind extrem gering, Innovationen werden dadurch erschwert. Zudem müssen die Unternehmen einen noch größeren Schritt machen, sozusagen aus der Steinzeit in die Moderne. Während in anderen Ländern Lebensmittellieferungen vor die Haustür längst gang und gäbe und natürlich eingepreist sind, müssen die deutschen Konzerne plötzlich einen Lieferservice aus dem Nichts herbeizaubern. Das größte Hindernis dabei sind die Kosten, bei denen sie kaum Spielraum haben. Der Online-Handel mit Lebensmitteln ist im Moment noch ein Defizitgeschäft; es kostet Überwindung, sich dafür zu entscheiden. Das ist der Grund, warum alle großen Vier so zögerlich vorgehen. Ein Fehler, den Amazon ausnutzt - interessanterweise auf eine Art, die den deutschen Konzernen bekannt vorkommen müsste.

Amazon geht wie die Discounter vor fünf Jahrzehnten mit einer ähnlichen Optimierungswut vor. Alles, was überflüssig ist, fliegt raus. Im Kern versucht der Konzern, so die Lieferkette vom Hersteller zum Verbraucher zu optimieren. Die Brüder Albrecht taten nichts anderes, schielten dabei aber auf den Preis als entscheidendes Kriterium. Amazon hat den Preis, aber vor allem auch die Bequemlichkeit der Kunden, neudeutsch: Convenience, im Auge. Einen Markt dafür gibt es, er richtet sich aber im Wesentlichen an eine städtische, wohlhabende Klientel, zumindest fürs Erste.

In die Zukunft gedacht könnte es ein Massenmarkt werden. Discounter und Supermärkte wird es weiter geben, aber richtig ist auch, dass viele gern darauf verzichten werden, jede Woche die gleiche Runde mit dem gleichen Einkaufszettel durch den gleichen Markt zu machen. Warum sollte der nicht von sich aus liefern? Dabei steht die Branche erst am Anfang dessen, was technisch denkbar ist. Derzeit werden Häuser mit intelligenten Briefkästen geplant, die mit einem Kühlsystem und einem Code ausgestattet sind und von mehreren Lieferanten bestückt werden können. Viele Anbieter arbeiten an solchen Ideen, aber gegenwärtig ist es noch der Konzern Amazon, der am ehesten für das technisch Machbare steht, und das interessanterweise auch beim Lebensmitteleinkauf, obwohl er offiziell (noch) kein Lebensmittelhändler ist. Rewe firmiert zwar im Moment noch als Marktführer im Online-Geschäft. Aber ginge man nach der Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit der Lieferungen, würde man Amazon schon heute bessere Werte ausstellen als dem Kölner Konzern, obwohl der US-Händler bisher noch keine einzige Gurke zugestellt hat. Amazon setzt damit, gerechtfertigt oder nicht, Maßstäbe, die dem Verbraucher nur recht sein können. Die gesamte Branche entwickelt sich zum Besseren. Bei wem man am Ende einkauft, ist im Prinzip zweitrangig.

© SZ vom 28.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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